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BGH, Urteil vom 5.12.2006 - Az. VI ZR 45/05
Die Bezeichnung "Terroristentochter" kann im konkreten Kontext eines Presseartikels zulässig sein.
BGB § 823 Ah
Leitsätze:*1. Die Bezeichnung "Terroristentochter" kann im konkreten Kontext eines Presseartikels zulässig sein.
2. Welche Maßstäbe für die Abwägung zwischen den widerstreitenden Grundrechten im Rahmen der Feststellung einer Verletzung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts durch eine Äußerung gelten, hängt grundsätzlich vom Aussagegehalt
der fraglichen Äußerung, also von deren Einstufung als Tatsachenbehauptung oder Meinungsäußerung ab. Diese Unterscheidung ist
grundsätzlich geboten, weil der Schutz der Meinungsfreiheit aus Art. 5 GG bei Meinungsäußerungen regelmäßig stärker ausgeprägt
ist als bei Tatsachenbehauptungen.
3. Soweit es um den Tatsachenkern geht, ist zu beachten, dass der Schutzbereich des Art. 5 Abs. 1 GG sich auch auf die Äußerung
von Tatsachen erstreckt, soweit sie Dritten zur Meinungsbildung dienen können, indem sie etwa darauf gerichtet sind, dem Leser
ein eigenes Urteil über ein geschildertes Verhalten zu ermöglichen (vgl. BVerfGE 90, 241, 247 f.; BVerfG NJW 2003, 1109; NJW 2003,
3760; Senatsurteil vom 26. November 1996 - VI ZR 323/95 - VersR 1997, 325, 326). Gleiches gilt, wenn es um eine Äußerung geht,
in der sich Tatsachen und Meinungen vermengen und die insgesamt durch die Elemente der Stellungnahme, des Dafürhaltens oder
Meinens geprägt wird (vgl. Senatsurteile BGHZ 132, 13, 20 f.; 139, 95, 101 f.; vom 29. Januar 2002 - VI ZR 20/01 - VersR 2002, 445, 446).
4. An die Bewertung einer Äußerung als Schmähung sind strenge Maßstäbe anzulegen, weil andernfalls eine umstrittene Äußerung ohne
Abwägung dem Schutz der Meinungsfreiheit entzogen und diese damit in unzulässiger Weise verkürzt würde (vgl. BVerfG NJW 1995, 1475,
1477; Senatsurteil BGHZ 143, 199, 208 ff. m. w. N.).
5. Da es Sinn jeder zur Meinungsbildung beitragenden öffentlichen Äußerung ist, Aufmerksamkeit zu erregen, sind angesichts der heutigen
Reizüberflutung einprägsame, auch starke Formulierungen hinzunehmen (BVerfGE 24, 278, 286). Das gilt auch für Äußerungen, die
in scharfer und abwertender Kritik bestehen, mit übersteigerter Polemik vorgetragen werden oder in ironischer Weise formuliert
sind (vgl. Senatsurteile vom 12. Oktober 1993 - VI ZR 23/93 - VersR 1994, 57, 59; vom 20. Mai 1986 - VI ZR 242/85 - VersR 1986, 992).
Der Kritiker darf seine Meinung grundsätzlich auch dann äußern, wenn sie andere für "falsch" oder für "ungerecht" halten
(Senatsurteile vom 30. Mai 2000 - VI ZR 276/99 - VersR 2000, 1162, 1163; vom 12. Oktober 1993 - VI ZR 23/93 - aaO; vom 30. Mai
1978 - VI ZR 117/76 - NJW 1978, 1797, 1798). Auch die Form der Meinungsäußerung unterliegt der durch Art. 5 Abs. 1 GG geschützten
Selbstbestimmung des Äußernden (BVerfGE 60, 234, 241). Verfolgt der Äußernde nicht eigennützige Ziele, sondern dient sein Beitrag
dem geistigen Meinungskampf in einer die Öffentlichkeit wesentlich berührenden Frage, dann spricht die Vermutung für die
Zulässigkeit der Äußerung; eine Auslegung der die Meinungsfreiheit beschränkenden Gesetze, die an die Zulässigkeit öffentlicher
Kritik überhöhte Anforderungen stellt, ist mit Art. 5 Abs. 1 GG nicht vereinbar (BVerfGE 42, 163, 170; 66, 116, 139; 68, 226, 232).
6. Für die Beurteilung der Reichweite des Grundrechtsschutzes aus Art. 5 Abs. 1 S. 1 GG kommt es ferner maßgeblich darauf an,
ob und in welchem Ausmaß der von den Äußerungen Betroffene seinerseits an dem von Art. 5 Abs. 1 GG geschützten Prozess
öffentlicher Meinungsbildung teilgenommen, sich damit aus eigenem Entschluss den Bedingungen des Meinungskampfes unterworfen
und sich durch dieses Verhalten eines Teils seiner schützenswerten Privatsphäre begeben hat (BVerfGE 54, 129, 138). Erst wenn
bei einer Äußerung nicht mehr die Auseinandersetzung in der Sache, sondern die Herabsetzung der Person im Vordergrund steht,
die jenseits polemischer und überspitzter Kritik herabgesetzt und gleichsam an den Pranger gestellt werden soll, hat die
Äußerung - auch wenn sie eine die Öffentlichkeit wesentlich berührende Frage betrifft - regelmäßig hinter dem Persönlichkeitsrecht
des Betroffenen zurückzutreten (vgl. BVerfGE 82, 272, 283 f.; 85, 1, 16; Senatsurteile BGHZ 143, 199, 209; vom 16. November
2004 - VI ZR 298/03 - VersR 2005, 277, 279; vom 29. Januar 2002 - VI ZR 20/01 - VersR 2002, 445, 446; vom 12. Oktober 1993 -
VI ZR 23/93 - aaO).
7. Eine Äußerung ist nicht isoliert zu würdigen, sondern in dem Gesamtzusammenhang, in dem sie
gefallen ist (vgl. Senatsur-teile BGHZ 132, 13, 20; vom 25. März 1997 - VI ZR 102/96 - VersR 1997, 842, 843; vom 28. Juni 1994 -
VI ZR 252/93 - VersR 1994, 1120, 1121).
8. Niemand kann sich auf ein Recht zur Privatheit hinsichtlich solcher Tatsachen berufen, die er selbst der Öffentlichkeit
preisgegeben hat (vgl. BVerfGE 101, 361, 385; Senatsurteile vom 19. Oktober 2004 - VI ZR 292/03 - VersR 2005, 84, 85; vom 9.
Dezember 2003 - VI ZR 373/02 - VersR 2004, 522, 524 und - VI ZR 404/02 - VersR 2004, 525, 526). Deshalb kann der Schutz der
Privatsphäre vor öffentlicher Kenntnisnahme dort entfallen oder zumindest im Rahmen der Abwägung zurücktreten, wo sich der
Betroffene selbst damit einverstanden gezeigt hat, dass bestimmte, gewöhnlich als privat geltende Angelegenheiten öffentlich
gemacht werden; die Erwartung, dass die Umwelt die Angelegenheiten oder Verhaltensweisen in einem Bereich mit Rückzugsfunktion
nur begrenzt oder nicht zur Kenntnis nimmt, muss situationsübergreifend und konsistent zum Ausdruck gebracht werden
(vgl. BVerfGE 101, 361, 385; BVerfG NJW 2006, 3406, 3408; Senatsurteil vom 19. Oktober 2004 - VI ZR 292/03 - aaO, 85 f. m. w. N.).
MIR 2007, Dok. 022
Bearbeiter: Rechtsanwalt Thomas Ch. Gramespacher
Online seit: 16.01.2007
Kurz-Link zum Artikel: http://miur.de/524
*Redaktionell. Amtliche Leit- und Orientierungssätze werden in einer "Anm. der Redaktion" benannt.
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