Rechtsprechung // Wettbewerbsrecht
OLG Frankfurt a.M., Urteil vom 21.12.2023 - 6 U 154/22
Haftung des Plattformbetreibers - Nach Kenntnis einer Kennzeichnungspflichtverletzung (hier Milchersatzprodukte) kann für amazon eine Verpflichtung zur Verhinderung (und Beseitigung) gleichartiger Rechtsverletzungen bestehen
UWG § 3a, 8 Abs. 3; VO (EU) Nr. 1308/2013 Art 78 Abs. 1c, Art 78 Abs. 2; DSA Art. 6 Abs. 1; TMG § 7 Abs. 2, Abs. 3 Satz 1, § 10 Abs. 1
Leitsätze:*1. Eine unlautere Wettbewerbshandlung kann begehen, wer durch sein Handeln im geschäftlichen Verkehr in einer ihm zurechenbaren Weise die Gefahr eröffnet, dass Dritte Interessen von Marktteilnehmern verletzen, die durch das Wettbewerbsrecht geschützt sind, wenn er diese Gefahr nicht im Rahmen des Möglichen und Zumutbaren begrenzt (vgl. z.B. BGH, Urteil vom 12.07.2007 - I ZR 18/04, MIR 2007, Dok. 325 - Jugendgefährdende Medien bei eBay). In einem solchen Fall kommt ein täterschaftlicher Verstoß gegen die Generalklausel des § 3 UWG in Betracht (vgl. BGH, MIR 2007, Dok. 325 - Jugendgefährdende Medien bei eBay). Die Bereitstellung der Plattform ist insoweit die Wettbewerbshandlung im Sinne von § 2 Abs. 1 Nr. 2 UWG (vgl. BGH, MIR 2007, Dok. 325 - Jugendgefährdende Medien bei eBay). Wer durch sein Handeln im geschäftlichen Verkehr die Gefahr schafft, dass Dritte durch das Wettbewerbsrecht geschützte Interessen von Marktteilnehmern verletzen, trifft wettbewerbsrechtlich die Pflicht, diese Gefahr im Rahmen des Möglichen und Zumutbaren zu begrenzen. Dem liegt der allgemeine Rechtsgrundsatz zugrunde, dass jeder, der in seinem Verantwortungsbereich eine Gefahrenquelle schafft oder andauern lässt, die ihm zumutbaren Maßnahmen und Vorkehrungen treffen muss, die zur Abwendung der Dritten daraus drohenden Gefahren notwendig sind (vgl. BGH, GRUR 2007, 890 Rn. 36 - Jugendgefährdende Medien bei eBay). Dies gilt unabhängig davon, ob sich die Gefahr in einem Erfolgs- oder Handlungsunrecht realisiert (vgl. BGH, MIR 2007, Dok. 325 - Jugendgefährdende Medien bei eBay).
2. Die wettbewerbsrechtliche Verkehrspflicht eines Telediensteanbieters hinsichtlich rechtsverletzender fremder Inhalte konkretisiert sich als Prüfungspflicht. Haftungsvoraussetzung ist eine Verletzung von Prüfungspflichten. Deren Bestehen und Umfang richten sich im Einzelfall nach einer Abwägung aller betroffenen Interessen und relevanten rechtlichen Wertungen. Entsprechend den zur Störerhaftung entwickelten Grundsätzen kommt es entscheidend darauf an, ob und inwieweit dem in Anspruch Genommenen nach den Umständen eine Prüfung zuzumuten ist (vgl. BGH, MIR 2007, Dok. 325 - Jugendgefährdende Medien bei eBay). Dem Betreiber eines von der Rechtsordnung gebilligten Geschäftsmodells dürfen dabei keine Anforderungen auferlegt werden, die dieses gefährden oder seine Tätigkeit unverhältnismäßig erschweren, wobei die fehlende Verpflichtung des Betreibers zur allgemeinen Überwachung mit zu berücksichtigen ist (vgl. BGH, MIR 2007, Dok. 325 - Jugendgefährdende Medien bei eBay). Insgesamt bedarf es eines Gleichgewichts zwischen den verschiedenen beteiligten Interessen (vgl. EuGH, Urteil vom 03.10.2019 - C-18/18. - Glawischnig-Piesczek/Facebook Ireland, zu Erwägungsgrund 41 der E-Commerce-Richtlinie; EuGH, Urteil vom 22.06.2021 - C-682/18 u.a. - YouTube und Cyando - wird ausgeführt).
3. Eine Unterlassungsverpflichtung kann sich auch darauf erstrecken, bereits bestehende, fortgesetzte und damit in die Zukunft reichende Rechtsverletzungen zu beseitigen (vgl. z.B. BGH, Urteil vom 02.06.2022 - I ZR 135/18- upload III). Zwar besteht eine Pflicht zur Verhinderung gleichartiger Verletzungshandlungen nur im Rahmen des technisch und wirtschaftlich Zumutbaren (vgl. z.B. BGH, Urteil vom 02.06.2022 - I ZR 135/18 - upload III). Es sind nur Maßnahmen zu treffen, die von einem die übliche Sorgfalt beachtenden Wirtschaftsteilnehmer in der Situation der Beklagten erwartet werden können, um entsprechende Verstöße effektiv zu unterbinden (vgl. insofern z.B. BGH, Urteil vom 02.06.2022 - I ZR 53/17 - uploaded II, wenn auch zum Urheberrecht).
4. Wird der Betreiber einer Verkaufsplattform auf Verstöße gegen Kennzeichnungsvorschriften hingewiesen (hier: Bezeichnung eines Sojaproduktes als "Milch"), besteht eine Pflicht zur Verhinderung künftiger gleichartiger Verletzungshandlungen auch jenseits des konkreten Angebots.
5. Durch die Kennzeichnung eines Angebots als "amazon's choice für reismilch" macht sich der Anbieter der Verkaufsplattform den Begriff nicht zu eigen, wenn der Verkehr erkennt, dass nur das vom Nutzer eingegebene Suchwort wiedergegeben wird.
Bearbeiter: Rechtsanwalt Thomas Ch. Gramespacher
Online seit: 24.01.2024
Kurz-Link zum Artikel: http://miur.de/3336
*Redaktionell. Amtliche Leit- und Orientierungssätze werden in einer "Anm. der Redaktion" benannt.
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