Rechtsprechung // Urheberrecht
BGH, Urteil vom 15.12.2022 - I ZR 173/21
Vitrinenleuchte - Zum urheberrechtlichen Schutz und der Bestimmung des konkreten urheberrechtlichen Schutzbereichs eines Werks der angewandten Kunst
Richtlinie 2001/29/EG Art. 2 Buchst. a; UrhG § 2 Abs. 1 Nr. 4, Abs. 2, §§ 12, 15, 16, 17, 23 Abs. 1 Satz 1, § 97
Leitsätze:*1. Der Grundsatz, dass der Umfang des urheberrechtlichen Schutzes eines Werks der angewandten Kunst nicht geringer als bei anderen unter die Richtlinie 2001/29/EG fallenden Werken ist (dazu EuGH, Urteil vom 12. September 2019 - C-683/17, GRUR 2019, 1185 [juris Rn. 35] = WRP 2019, 1449 - Cofemel), besagt allein, dass bei Werken der angewandten Kunst dieselben Ausschließlichkeitsrechte gewährt werden müssen und hinsichtlich der Reichweite dieser Rechte dieselben Rechtsmaßstäbe anzulegen sind wie bei allen anderen Werkkategorien. Auf die im Einzelfall vorzunehmende Bestimmung des konkreten urheberrechtlichen Schutzbereichs eines Werks, der sich aus seiner Gestaltungshöhe ergibt, bezieht sich diese Aussage hingegen nicht.
2. Nach § 2 Abs. 1 Nr. 4 UrhG gehören Werke der bildenden Kunst einschließlich der Werke der Baukunst und der angewandten Kunst sowie Entwürfe solcher Werke zu den urheberrechtlich geschützten Werken, sofern sie nach § 2 Abs. 2 UrhG persönliche geistige Schöpfungen sind. Eine persönliche geistige Schöpfung ist eine Schöpfung individueller Prägung, deren ästhetischer Gehalt einen solchen Grad erreicht hat, dass nach Auffassung der für Kunst empfänglichen und mit Kunstanschauungen einigermaßen vertrauten Kreise von einer "künstlerischen" Leistung gesprochen werden kann. Dabei kann die ästhetische Wirkung der Gestaltung einen Urheberrechtsschutz nur begründen, soweit sie auf einer künstlerischen Leistung beruht und diese zum Ausdruck bringt (BGH, Urteil vom 07.04.2022 - I ZR 222/20 - Porsche 911, mwN).
3. Für die Einstufung eines Objekts als Werk müssen zwei kumulative Voraussetzungen erfüllt sein. Zum einen muss es sich bei dem betreffenden Gegenstand um ein Original in dem Sinne handeln, dass er eine eigene geistige Schöpfung seines Urhebers darstellt (EuGH, Urteil vom 13.11.2018 - C-310/17, MIR 2018, Dok. 051 - Levola Hengelo; EuGH, Urteil vom 12.09.2019 - C-683/17 - Cofemel; EuGH, Urteil vom 11.06.2020 - C-833/18 - Brompton Bicycle). Ein Gegenstand ist ein Original, wenn er die Persönlichkeit seines Urhebers widerspiegelt, indem er dessen freie kreative Entscheidungen zum Ausdruck bringt. Davon kann nicht ausgegangen werden, wenn die Schaffung eines Gegenstands durch technische Erwägungen, durch Regeln oder durch andere Zwänge bestimmt wurde, die der Ausübung künstlerischer Freiheit keinen Raum gelassen haben (EuGH, Urteil vom 12.09.2019 - C-683/17 - Cofemel; EuGH, Urteil vom 11.06.2020 - C-833/18 - Brompton Bicycle). Zum anderen ist die Einstufung als Werk Elementen vorbehalten, die eine solche Schöpfung zum Ausdruck bringen (EuGH, Urteil vom 13.11.2018 - C-310/17, MIR 2018, Dok. 051 - Levola Hengelo; EuGH, Urteil vom 12.09.2019 - C-683/17 - Cofemel; EuGH, Urteil vom 11.06.2020 - C-833/18 - Brompton Bicycle).
4. Hiermit steht im Einklang, dass bei Werken der angewandten Kunst keine höheren Anforderungen an die Gestaltungshöhe zu stellen sind als bei Werken der zweckfreien Kunst. Bei Gebrauchsgegenständen, die durch den Gebrauchszweck bedingte Gestaltungsmerkmale aufweisen, ist lediglich der Spielraum für eine künstlerische Gestaltung regelmäßig eingeschränkt. Deshalb stellt sich bei ihnen in besonderem Maße die Frage, ob sie über ihre von der Funktion vorgegebene Form hinaus künstlerisch gestaltet sind und diese Gestaltung eine Gestaltungshöhe erreicht, die Urheberrechtsschutz rechtfertigt. Eine zwar Urheberrechtsschutz begründende, gleichwohl aber geringe Gestaltungshöhe führt zu einem entsprechend engen Schutzbereich des betreffenden Werkes (BGH, Urteil vom 13.11.2013 - I ZR 143/12, MIR 2013, Dok. 097 – Geburtstagszug, mwN).
Bearbeiter: Rechtsanwalt Thomas Ch. Gramespacher
Online seit: 27.03.2023
Kurz-Link zum Artikel: http://miur.de/3268
*Redaktionell. Amtliche Leit- und Orientierungssätze werden in einer "Anm. der Redaktion" benannt.
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