Kurz notiert // Wettbewerbsrecht
Bundesgerichtshof
Amazons überragende marktübergreifende Bedeutung für den Wettbewerb bestätigt - Erste Entscheidung zu § 19a Abs. 1 GWB
BGH, Beschluss vom 23.04.2024 - KVB 56/22 - Amazon
MIR 2024, Dok. 034, Rz. 1
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Der Bundesgerichtshof hat mit Beschluss vom 23.04.2024 (KVB 56/22) die Feststellung des Bundeskartellamts bestätigt, dass Amazon eine überragende marktübergreifende Bedeutung für den Wettbewerb hat. Erstmals hat der Kartellsenat damit in erster und letzter Instanz über eine Beschwerde gegen eine Feststellung nach § 19a Abs. 1 GWB entschieden. Die am 19.01.2021 in Kraft getretene Regelung des § 19a GWB dient der Modernisierung und Stärkung der wettbewerbsrechtlichen Missbrauchsaufsicht. Sie sieht ein zweistufiges Verfahren vor. Danach kann das Bundeskartellamt in einem ersten Schritt die überragende marktübergreifende Bedeutung des Unternehmens für den Wettbewerb feststellen (§ 19a Abs. 1 GWB) und dem betroffenen Unternehmen in einem zweiten Schritt bestimmte Verhaltensweisen untersagen (§ 19a Abs. 2 GWB).
Zur Sache:
Amazon ist weltweit unter anderem im Bereich des E-Commerce, als stationärer Einzelhändler und als Anbieter von cloudbasierten IT-Dienstleistungen (Amazon Web Services, AWS) tätig. Der Konzern war zum 27. Dezember 2021 mit einer Marktkapitalisierung von 1,721 Billionen USD das fünftwertvollste Unternehmen der Welt, wobei der Börsenwert innerhalb der vorangegangenen sieben Jahre um etwa 443 % gestiegen war. Das Unternehmen erzielte im Geschäftsjahr 2021 weltweit Umsätze von rund 469,8 Mrd USD. Auf Deutschland entfielen davon rund 37,3 Mrd USD. Damit stellte Deutschland auf den Umsatz bezogen nach den USA den zweitwichtigsten (Absatz-)Markt für Amazon dar. Die jährlichen Gewinne stiegen von (weltweit) 3 Mrd USD im Geschäftsjahr 2017 auf 33,4 Mrd USD in 2021, mithin um 1013 %. Amazon gehört mit 1,6 Mio Mitarbeitern zum 31.12.2021 zu den größten Arbeitgebern weltweit.
Das Bundeskartellamt hat mit Beschluss vom 05.07.2022 nach § 19a Abs. 1 GWB festgestellt, dass Amazon.com, Inc. einschließlich der mit ihr verbundenen Unternehmen eine überragende marktübergreifende Bedeutung für den Wettbewerb zukommt. Die Feststellung ist auf fünf Jahre nach Eintritt der Bestandskraft befristet. Gegen diesen Beschluss haben Amazon.com, Inc. und eine deutsche Konzerngesellschaft Beschwerde mit dem Antrag eingelegt, den Beschluss aufzuheben. Während des Beschwerdeverfahrens wurde Amazon von der Europäischen Kommission als Torwächter gemäß Art. 3 Digital Markets Act (DMA) benannt. Für die von Amazon betriebenen Vermittlungsplattformen Amazon Marketplace und Amazon Advertising gelten in der Europäischen Union seit dem 07.03.2024 die das Marktverhalten regelnden Vorschriften des DMA.
Entscheidung des Bundesgerichtshofs:
Die Beschwerde habe keinen Erfolg. Der Bundesgerichtshof sei für die Beschwerde gemäß § 73 Abs. 5 Nr. 1 GWB in erster und letzter Instanz zuständig. Verfassungsrechtliche Bedenken bestünden insoweit nicht. § 19a Abs. 1 GWB und der auf Grund dieser Vorschrift erlassenen Feststellungsverfügung stünden auch keine unionsrechtlichen Gründe entgegen. § 19a Abs. 1 GWB sei eine Vorschrift des nationalen Wettbewerbsrechts, deren Anwendung neben dem DMA zulässig sei. Da sich die Feststellungsverfügung nicht auf einen bestimmten Dienst der Informationsgesellschaft bezieh, verstoße sie auch nicht gegen das sich aus der Richtlinie 2000/31/EG (E-Commerce-Richtlinie) ergebende Verbot der Einschränkung des freien Verkehrs von Diensten der Informationsgesellschaft aus einem anderen Mitgliedstaat. § 19a Abs. 1 GWB musste ferner bei der Europäischen Kommission nicht nach der Richtlinie (EU) 2015/1535 notifiziert werden, weil es sich nicht um eine allgemein gehaltene Vorschrift betreffend Dienste der Informationsgesellschaft im Sinn dieser Richtlinie handele, so der BGH. Danach bestünde kein Anlass, ein Vorabentscheidungsersuchen an den Gerichtshof der Europäischen Union zu richten.
Amazon ist in erheblichem Umfang auf mehrseitigen Märkten tätig und hat eine überragende marktübergreifende Bedeutung
Das Bundeskartellamt habe gemäß § 19a Abs. 1 GWB zu Recht festgestellt, dass Amazon in erheblichem Umfang auf mehrseitigen Märkten gemäß § 18 Abs. 3a GWB tätig sei und dem Konzern eine überragende marktübergreifende Bedeutung für den Wettbewerb zukomme.
Amazon unterhalte weltweit 21 länderspezifische Domains mit Handelsplattformen (Amazon Store) und vertreibe darüber als Hersteller und Einzelhändler physische und digitale Waren an Endkunden (etwa Amazon Retail, Home Entertainment, Twitch, Prime Video, Kindle Content, Amazon Music, Amazon Games, Amazon Echo und Amazon Alexa, Amazon Fire, Fire TV, SmartHome-Geräte). Gleichzeitig betreibe Amazon die Handelsplattformen als Online-Marktplätze und ermögliche es dritten Online-Händlern gegen Provisionszahlung, ihre Waren Endkunden anzubieten. Amazon habe eine eigene Logistikinfrastruktur und vermittele - auch in Deutschland - Versandaufträge zwischen dritten Online-Händlern und Versanddienstleistern. Amazon Advertising bringe Werbekunden und Anbieter von Werbeflächen zusammen.
Abstraktes Gefährdungspotential ausreichend - überragende marktübergreifende Bedeutung für den Wettbewerb setzt keine konkrete Wettbewerbsgefahr oder Wettbewerbsbeeinträchtigung voraus
Die Feststellung der überragenden marktübergreifenden Bedeutung für den Wettbewerb setze keine konkrete Wettbewerbsgefahr oder Wettbewerbsbeeinträchtigung voraus. Vielmehr reiche dafür das Vorliegen der strategischen und wettbewerblichen Möglichkeiten aus, deren abstraktes Gefährdungspotential durch die Vorschrift adressiert wird. § 19a Abs. 1 GWB solle dem Bundeskartellamt eine effektivere Kontrolle derjenigen großen Digitalunternehmen ermöglichen, deren Ressourcen und strategische Positionierung ihnen erlauben, erheblichen Einfluss auf die Geschäftstätigkeit Dritter zu nehmen, den Wettbewerbsprozess zum eigenen Vorteil zu verfälschen sowie ihre bestehende Marktmacht auf immer neue Märkte und Sektoren zu übertragen. Das Bundeskartellamt habae zutreffend festgestellt, dass Amazon über solche strategischen und wettbewerblichen Potentiale verfügt. Der Konzern sei auf einer Vielzahl von verschiedenen, vertikal integrierten und in vielfältiger und konglomerater Weise miteinander verbundenen Märkten tätig und hat eine marktbeherrschende Stellung auf dem deutschen Markt für Online-Marktplatzdienstleistungen für gewerbliche Händler. Er verfüge über eine überragende Finanzkraft und einen überragenden Zugang zu wettbewerbsrelevanten Daten wie etwa Kunden- und Nutzerdaten, Daten aus dem Betrieb der Handelsplattformen und Werbeplattformen und damit verbundenen Diensten sowie aus dem Betrieb von AWS.
Amazon hat eine Schlüsselposition für den Marktzugang
Amazon habe als Betreiber von zahlreichen nationalen Online-Marktplätzen weltweit und in Deutschland eine Schlüsselposition für den Zugang von Einzelhändlern zu ihren Absatzmärkten und könne erheblichen Einfluss auf die Vertriebstätigkeit von Dritthändlern ausüben. Die nunmehrige Geltung der Regelungen des DMA und die während des Beschwerdeverfahrens gegenüber der Europäischen Kommission im Rahmen eines Missbrauchsverfahrens abgegebenen Zusagen von Amazon stünden der Feststellung nicht entgegen.
(tg) - Quelle: PM Nr. 097/2024 des BGH vom 23.04.2024
Zur Sache:
Amazon ist weltweit unter anderem im Bereich des E-Commerce, als stationärer Einzelhändler und als Anbieter von cloudbasierten IT-Dienstleistungen (Amazon Web Services, AWS) tätig. Der Konzern war zum 27. Dezember 2021 mit einer Marktkapitalisierung von 1,721 Billionen USD das fünftwertvollste Unternehmen der Welt, wobei der Börsenwert innerhalb der vorangegangenen sieben Jahre um etwa 443 % gestiegen war. Das Unternehmen erzielte im Geschäftsjahr 2021 weltweit Umsätze von rund 469,8 Mrd USD. Auf Deutschland entfielen davon rund 37,3 Mrd USD. Damit stellte Deutschland auf den Umsatz bezogen nach den USA den zweitwichtigsten (Absatz-)Markt für Amazon dar. Die jährlichen Gewinne stiegen von (weltweit) 3 Mrd USD im Geschäftsjahr 2017 auf 33,4 Mrd USD in 2021, mithin um 1013 %. Amazon gehört mit 1,6 Mio Mitarbeitern zum 31.12.2021 zu den größten Arbeitgebern weltweit.
Das Bundeskartellamt hat mit Beschluss vom 05.07.2022 nach § 19a Abs. 1 GWB festgestellt, dass Amazon.com, Inc. einschließlich der mit ihr verbundenen Unternehmen eine überragende marktübergreifende Bedeutung für den Wettbewerb zukommt. Die Feststellung ist auf fünf Jahre nach Eintritt der Bestandskraft befristet. Gegen diesen Beschluss haben Amazon.com, Inc. und eine deutsche Konzerngesellschaft Beschwerde mit dem Antrag eingelegt, den Beschluss aufzuheben. Während des Beschwerdeverfahrens wurde Amazon von der Europäischen Kommission als Torwächter gemäß Art. 3 Digital Markets Act (DMA) benannt. Für die von Amazon betriebenen Vermittlungsplattformen Amazon Marketplace und Amazon Advertising gelten in der Europäischen Union seit dem 07.03.2024 die das Marktverhalten regelnden Vorschriften des DMA.
Entscheidung des Bundesgerichtshofs:
Die Beschwerde habe keinen Erfolg. Der Bundesgerichtshof sei für die Beschwerde gemäß § 73 Abs. 5 Nr. 1 GWB in erster und letzter Instanz zuständig. Verfassungsrechtliche Bedenken bestünden insoweit nicht. § 19a Abs. 1 GWB und der auf Grund dieser Vorschrift erlassenen Feststellungsverfügung stünden auch keine unionsrechtlichen Gründe entgegen. § 19a Abs. 1 GWB sei eine Vorschrift des nationalen Wettbewerbsrechts, deren Anwendung neben dem DMA zulässig sei. Da sich die Feststellungsverfügung nicht auf einen bestimmten Dienst der Informationsgesellschaft bezieh, verstoße sie auch nicht gegen das sich aus der Richtlinie 2000/31/EG (E-Commerce-Richtlinie) ergebende Verbot der Einschränkung des freien Verkehrs von Diensten der Informationsgesellschaft aus einem anderen Mitgliedstaat. § 19a Abs. 1 GWB musste ferner bei der Europäischen Kommission nicht nach der Richtlinie (EU) 2015/1535 notifiziert werden, weil es sich nicht um eine allgemein gehaltene Vorschrift betreffend Dienste der Informationsgesellschaft im Sinn dieser Richtlinie handele, so der BGH. Danach bestünde kein Anlass, ein Vorabentscheidungsersuchen an den Gerichtshof der Europäischen Union zu richten.
Amazon ist in erheblichem Umfang auf mehrseitigen Märkten tätig und hat eine überragende marktübergreifende Bedeutung
Das Bundeskartellamt habe gemäß § 19a Abs. 1 GWB zu Recht festgestellt, dass Amazon in erheblichem Umfang auf mehrseitigen Märkten gemäß § 18 Abs. 3a GWB tätig sei und dem Konzern eine überragende marktübergreifende Bedeutung für den Wettbewerb zukomme.
Amazon unterhalte weltweit 21 länderspezifische Domains mit Handelsplattformen (Amazon Store) und vertreibe darüber als Hersteller und Einzelhändler physische und digitale Waren an Endkunden (etwa Amazon Retail, Home Entertainment, Twitch, Prime Video, Kindle Content, Amazon Music, Amazon Games, Amazon Echo und Amazon Alexa, Amazon Fire, Fire TV, SmartHome-Geräte). Gleichzeitig betreibe Amazon die Handelsplattformen als Online-Marktplätze und ermögliche es dritten Online-Händlern gegen Provisionszahlung, ihre Waren Endkunden anzubieten. Amazon habe eine eigene Logistikinfrastruktur und vermittele - auch in Deutschland - Versandaufträge zwischen dritten Online-Händlern und Versanddienstleistern. Amazon Advertising bringe Werbekunden und Anbieter von Werbeflächen zusammen.
Abstraktes Gefährdungspotential ausreichend - überragende marktübergreifende Bedeutung für den Wettbewerb setzt keine konkrete Wettbewerbsgefahr oder Wettbewerbsbeeinträchtigung voraus
Die Feststellung der überragenden marktübergreifenden Bedeutung für den Wettbewerb setze keine konkrete Wettbewerbsgefahr oder Wettbewerbsbeeinträchtigung voraus. Vielmehr reiche dafür das Vorliegen der strategischen und wettbewerblichen Möglichkeiten aus, deren abstraktes Gefährdungspotential durch die Vorschrift adressiert wird. § 19a Abs. 1 GWB solle dem Bundeskartellamt eine effektivere Kontrolle derjenigen großen Digitalunternehmen ermöglichen, deren Ressourcen und strategische Positionierung ihnen erlauben, erheblichen Einfluss auf die Geschäftstätigkeit Dritter zu nehmen, den Wettbewerbsprozess zum eigenen Vorteil zu verfälschen sowie ihre bestehende Marktmacht auf immer neue Märkte und Sektoren zu übertragen. Das Bundeskartellamt habae zutreffend festgestellt, dass Amazon über solche strategischen und wettbewerblichen Potentiale verfügt. Der Konzern sei auf einer Vielzahl von verschiedenen, vertikal integrierten und in vielfältiger und konglomerater Weise miteinander verbundenen Märkten tätig und hat eine marktbeherrschende Stellung auf dem deutschen Markt für Online-Marktplatzdienstleistungen für gewerbliche Händler. Er verfüge über eine überragende Finanzkraft und einen überragenden Zugang zu wettbewerbsrelevanten Daten wie etwa Kunden- und Nutzerdaten, Daten aus dem Betrieb der Handelsplattformen und Werbeplattformen und damit verbundenen Diensten sowie aus dem Betrieb von AWS.
Amazon hat eine Schlüsselposition für den Marktzugang
Amazon habe als Betreiber von zahlreichen nationalen Online-Marktplätzen weltweit und in Deutschland eine Schlüsselposition für den Zugang von Einzelhändlern zu ihren Absatzmärkten und könne erheblichen Einfluss auf die Vertriebstätigkeit von Dritthändlern ausüben. Die nunmehrige Geltung der Regelungen des DMA und die während des Beschwerdeverfahrens gegenüber der Europäischen Kommission im Rahmen eines Missbrauchsverfahrens abgegebenen Zusagen von Amazon stünden der Feststellung nicht entgegen.
(tg) - Quelle: PM Nr. 097/2024 des BGH vom 23.04.2024
Bearbeiter: Rechtsanwalt Thomas Ch. Gramespacher
Online seit: 23.04.2024
Kurz-Link zum Artikel: http://miur.de/3363
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