Rechtsprechung // Zivilrecht
BGH, Urteil vom 01.12.2022 - I ZR 28/22
Gesetzlichkeitsfiktion nur bei unveränderter Übernahme - Die Schutzwirkung der Gesetzlichkeitsfiktion gemäß Art. 246a § 1 Abs. 2 Satz 2 EGBGB kommt dem Unternehmer nur bei unveränderter Übernahme der Muster-Widerrufsbelehrung zugute
Richtlinie 2011/83/EU Art. 6 Abs. 1 Buchst. h, Abs. 4 Satz 2, Art. 8 Abs. 1, Art. 9 Abs. 1, Art. 10 Abs. 1; BGB § 312g Abs. 1, § 355 Abs. 2, § 356 Abs. 3 Satz 2; EGBGB Art. 246a § 1 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1, Abs. 2 Satz 2, § 4 Abs. 3 Satz 1
Leitsätze:*1.
a) Die Schutzwirkung der Gesetzlichkeitsfiktion gemäß Art. 246a § 1 Abs. 2 Satz 2 EGBGB kommt nur dem Unternehmer zugute, der die Muster-Widerrufsbelehrung nach Anlage 1 zu dieser Bestimmung unverändert verwendet und richtig ausfüllt.
b) Der Unternehmer kann seine Informationspflichten auch durch eine Belehrung erfüllen, die von der Musterbelehrung abweicht, aber inhaltlich den in § 356 Abs. 3 Satz 1 BGB, Art. 246a § 1 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 EGBGB geregelten Anforderungen genügt. In einem solchen Fall trägt der Unternehmer allerdings das Risiko, dass seine Information den allgemeinen Anforderungen an eine umfassende, unmissverständliche und nach dem Verständnis eines normal informierten, angemessen aufmerksamen und verständigen Verbrauchers eindeutige Belehrung genügt.
2. Nach dem Wortlaut von Art. 246a § 1 Abs. 2 Satz 2 EGBGB setzt die Inanspruchnahme der Schutzfunktion voraus, dass der Unternehmer seine Informationspflicht erfüllt, indem er "das" in der Anlage 1 vorgesehene Muster für die Widerrufsbelehrung "zutreffend ausgefüllt" dem Verbraucher übermittelt. Zweck der Gesetzlichkeitsfiktion in Art. 246a § 1 Abs. 2 Satz 2 EGBGB ist es, dem Unternehmer die Erfüllung der Informationspflichten durch die Verwendung gesetzlich vorgesehener Muster zu erleichtern. Die Geschäftspraxis für den Unternehmer soll vereinfacht sowie Rechtssicherheit hergestellt und in der Folge die Rechtspraxis entlastet werden. Werden Abweichungen des Mustertextes zugelassen, lässt sich schon mit Rücksicht auf die Vielgestaltigkeit möglicher individueller Veränderungen des Musters keine verallgemeinerungsfähige bestimmte Grenze ziehen, bei deren Einhaltung eine Schutzwirkung noch gelten und ab deren Überschreitung sie bereits entfallen soll. Für die Zulassung gewisser individueller Änderungen durch den Unternehmer besteht auch kein schutzwürdiges Bedürfnis. Dem Unternehmer steht es frei, auf die Schutzwirkung der Musterverwendung zu verzichten und seine Informationspflichten durch eine individuell gestaltete Belehrung zu erfüllen.
3. Der Verbraucher soll durch die (Wiederrufs-) Belehrung nicht nur von seinem Widerrufsrecht Kenntnis erlangen, sondern auch in die Lage versetzt werden, dieses wirksam auszuüben. Der regelmäßig rechtsunkundige Verbraucher soll unter anderem über den Beginn der Widerrufsfrist eindeutig informiert werden, er darf über ihre Berechnung nicht im Unklaren gelassen werden (BGH, Urteil vom 04.07.2002 - I ZR 55/00 - Belehrungszusatz, mwN). Entscheidend ist, ob der vom Gesetz mit der Einräumung eines Widerrufsrechts zugunsten des Verbrauchers verfolgte Zweck mit der verwendeten Widerrufsbelehrung erreicht wird (BGH, Urteil vom 04.07.2002 - I ZR 55/00 - Belehrungszusatz, mwN). Unzulässig ist eine Belehrung, deren Inhalt oder Gestaltung die Gefahr begründet, dass der Verbraucher irregeführt und von einem rechtzeitigen Widerruf abgehalten wird (vgl. BGH, Urteil vom 20.05.2021 - III ZR 126/19 - hier bejaht im Fall widersprüchlicher Angaben zum Adressaten des Widerrufs).
Bearbeiter: Rechtsanwalt Thomas Ch. Gramespacher
Online seit: 22.03.2023
Kurz-Link zum Artikel: http://miur.de/3267
*Redaktionell. Amtliche Leit- und Orientierungssätze werden in einer "Anm. der Redaktion" benannt.
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