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Kurz notiert



Bundesverfassungsgericht

Contergan-Film darf im November ausgestrahlt werden - Bundesverfassungsgericht lehnt Eilanträge gegen die Austrahlung ab.

BVerfG, Beschlüsse vom 29.08.2007 – 1 BvR 1223/07; 1 BvR 1224/07; 1 BvR 1225/07; 1 BvR 1226/07

MIR 2007, Dok. 329, Rz. 1


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Zur Sache: Der Hintergrund

Die Firma Chemie Grünenthal GmbH brachte zum 1. Oktober 1957 das Medikament Contergan auf den Markt. Im Jahre 1961 nahm sie dieses wieder vom Markt, als der Verdacht an sie herangetragen war, dass die Einnahme des Medikaments durch Schwangere bei Föten schwere Missbildungen hervorrufen könne. Ein Strafverfahren gegen mehrere Mitarbeiter des Unternehmens wurde 1970 eingestellt, nachdem das Unternehmen 100 Millionen DM zur Entschädigung der Contergan-Opfer bereitgestellt hatte.

Der WDR ließ einen Spielfilm erstellen, der an das historische Geschehen um Contergan unter Nennung dieser Arzneibezeichnung sowie der Herstellerin anknüpft. Im Mittelpunkt des Films steht die Figur eines Rechtsanwalts, der gegen das verantwortliche Unternehmen mit juristischen Mitteln vorgeht, um es zu Entschädigungszahlungen an Contergan-Geschädigte aus der Einnahme von Contergan zu veranlassen. Die Filmhandlung schildert vielfältige Bemühungen des Unternehmens, seine Inanspruchnahme auf Zahlung einer solchen Entschädigung sowie einer Bestrafung von Mitarbeitern zu verhindern. Im Vor- und Abspann des Films wird darauf hingewiesen, dass es sich nicht um einen Dokumentarfilm, sondern um einen Spiel- und Unterhaltungsfilm auf der Grundlage eines historischen Stoffes handle. Die im Film handelnden Personen und ihre beruflichen und privaten Handlungen und Konflikte seien frei erfunden.

"Prozessgeschichte"

Nachdem das Landgericht die ursprünglich für Herbst 2006 vorgesehene Ausstrahlung des Films auf Antrag des früheren Opferanwalts sowie des Pharmaunternehmens untersagt hatte, hob das Hanseatische Oberlandesgericht die einstweiligen Verfügungen auf. Hiergegen richten sich die Verfassungsbeschwerden der Beschwerdeführer, die eine Verletzung ihres Persönlichkeitsrechts geltend machen. Zugleich beantragten sie, im Wege einer Eilentscheidung die nunmehr für den 7. und 8. November 2007 geplante Ausstrahlung des Films bis zur Entscheidung über ihre Verfassungsbeschwerde zu verbieten. Die 1. Kammer des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts hat die Anträge auf Erlass einer Eilentscheidung abgelehnt. Über die Verfassungsbeschwerde ist noch nicht entschieden.

Entscheidung des BVerfG: Ausgangspunkt Folgenabwägung

Das Bundesverfassungsgericht hatte zwischen den Folgen abzuwägen, die einerseits den Beschwerdeführern bei Ausstrahlung des Films und andererseits der Rundfunkanstalt bei einem Verbot der Ausstrahlung drohen.

Film erweckt nicht Eindruck eines möglichst detailgetreuen Dokumentarspiels

Die Folgenabwägung könne die Würdigung des Oberlandesgerichts zugrunde gelegt werden, dass eine Ausstrahlung des Films nicht die von den Beschwerdeführern befürchtete schwerwiegende Beeinträchtigung ihres Persönlichkeitsrechts bewirken kann. Das Oberlandesgericht berücksichtige, dass die Filmhandlung, ungeachtet ihrer Anknüpfung an ein historisches Geschehen, bereits nach dem Gesamtcharakter des Films, der zudem durch die Formulierung im Vor- und Abspann unterstrichen wird, nicht den Eindruck erwecke, nach Art eines Dokumentarspiels das historische Geschehen in sämtlichen Einzelheiten möglichst detailgetreu nachzubilden.

Ein verständiger Zuschauers fasst trotz Assoziationsmöglichkeiten die Gesamthandlung nicht als umfassend tatsachengetreue Schilderung auf

Zwar ermögliche die Anknüpfung an einen realen Sachverhalt, einen Bezug zu den Beschwerdeführern herzustellen. Dies sei eine notwendige Folge der beabsichtigten und offen gelegten Anknüpfung der Spielhandlung an einen historischen Sachverhalt. Ein verständiger Zuschauer wird das in der Filmhandlung dargestellte Geschehen um den Rechtsanwalt und die ihm entgegenwirkenden Mitarbeiter des Unternehmens aufgrund der Fülle von Abweichungen in den Charakteristika und Handlungsweisen der Filmfiguren jedoch nicht als umfassend tatsachengetreue Schilderung des seinerzeitigen Verhaltens der konkret Betroffenen auffassen.

Hier: Massiver Eingriff in die Freiheit einer Rundfunkanstalt zur Gestaltung und Verbreitung ihres Programms insbesondere wegen tagesaktueller Bedeutsamkeit

Demgegenüber stehe das Anliegen der Rundfunkanstalt, den Film noch in zeitlichem Zusammenhang zu dem im Oktober 2007 anstehenden und zeitgeschichtlich bedeutsamen Jahrestag der 50jährigen Wiederkehr der Markteinführung des Medikaments Contergan auszustrahlen und so eine besondere publizistische Wirkung zu erzielen. Es stelle einen schwerwiegenden Eingriff in die Freiheit der Rundfunkanstalt zur Gestaltung und Verbreitung ihres Programms dar, wenn sie durch Erlass einer Eilanordnung an der Erstausstrahlung eines Spielfilms zu einem nach Gesichtspunkten der tagesaktuellen Bedeutsamkeit gewählten Zeitpunkt und in einem nach medienspezifischen Gesichtspunkten gewählten Kontext gehindert wird. Die Verbreitung eines unterhaltend aufgemachten Films in Anknüpfung an einen bedeutsamen zeitgeschichtlichen Jahrestag könne aber auch der öffentlichen Meinungsbildung bedeutsame Anstöße vermitteln, die bei einer Verzögerung der Ausstrahlung des Films bis zu einem späteren Zeitpunkt wegen des dann geringen Aktualitätsbezugs verloren gingen.

Die Abwägung der aufgezeigten Folgen ergibt nicht, dass die den Beschwerdeführern bei der Verweigerung einer Eilentscheidung drohenden Nachteile schwerer wögen als die mit ihrem Erlass verbundenen Beeinträchtigungen der Belange der Rundfunkanstalt und des Informationsinteresses der Öffentlichkeit.

(tg) – Quelle: PM des BVerfG Nr. 88/2007 vom 5.09.2007


Online seit: 05.09.2007
Kurz-Link zum Artikel: http://miur.de/1353
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