Rechtsprechung
OLG Frankfurt a.M., Beschluss vom 20.09.2006 - Az. 16 W 55/06
Allein durch die Bereithaltung eines zu einem früheren Zeitpunkt erschienenen, zulässigen Artikels in einem (Online-) Archiv wird ein betroffener verurteilter Straftäter nicht erneut "an das Licht der Öffentlichkeit gezerrt", da sich der Äußerungsgehalt lediglich in einem Hinweis auf eine in der Vergangenheit zulässige Berichterstattung erschöpft.
GG Art. 5 Abs. 1 Satz 1; BGB 823, 1004
Leitsätze:*1. Eine spätere (Presse-) Berichterstattung über bereits abgeurteilte Straftaten ist jedenfalls dann unzulässig, wenn sie geeignet ist,
gegenüber der aktuellen Information eine erheblich neue oder zusätzliche Beeinträchtigung des Täters zu bewirken, insbesondere
seine Wiedereingliederung in die Gesellschaft zu gefährden.
2. Allein durch die Bereithaltung eines zu einem früheren Zeitpunkt erschienenen, zulässigen Artikels in einem (Online-) Archiv wird
ein betroffener bereits verurteilter Straftäter nicht erneut "an das Licht der Öffentlichkeit gezerrt", da sich der
Äußerungsgehalt lediglich in einem Hinweis auf eine in der Vergangenheit zulässige Berichterstattung erschöpft.
Dies gilt umso mehr, als die Artikel nicht ohne weiteres
zugänglich sind, sondern der interessierte Nutzer vielmehr konkret danach - sei es durch eine Homepage-Suchfunktion oder mittels einer
Suchmaschine - suchen muss.
3. Die Gefahr des "ewigen Prangers des Internet" besteht auch im Fall eines Online-Archivs für einen bereits abgeurteilten Straftäter nicht.
Denn dass archivierte Äußerungen veraltet und nicht mehr von aktuellem Bezug sind, ergibt sich aus der Natur der Sache.
Insbesondere entsteht eine Beeinträchtigung nicht dadurch, dass ein aufgerufener Artikel aus einer früheren Berichterstattung
möglicherweise unter dem Datum der Abfrage erscheint. Der Nutzer, der den Artikel über die Archivfunktion aufruft, weiß, dass er
sich in einem Archiv befindet. Wer über eine Suchmaschine auf den Artikel trifft, wird zumindest durch die URL darauf hingewiesen,
dass es sich nicht um eine aktuelle Berichterstattung handelt.
4. Für die Unangreifbarkeit eines Online-Archivs streite zudem das Grundrecht auf Informationsfreiheit nach Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG. Danach
hat jeder das Recht, sich aus allgemein zugänglichen Quellen ungehindert zu unterrichten. Diese Quellen dürfen jedoch nicht dadurch
verändert werden, dass eine ursprünglich zulässige Berichterstattung nachträglich gelöscht wird. Dies würde zu einer Verfälschung
der historischen Abbildung führen und der besonderen Bedeutung von Archiven nicht gerecht werden.
5. Es würde zu einer Überspannung der Überwachungspflichten führen, wenn man - auch im Hinblick auf wirtschaftliche, personelle
und zeitliche Aspekte - für die Archivverwaltung von der Presse verlangen würde, dass sie
turnusmäßig ihre Archive durchforstet, ob ursprünglich zulässige Berichterstattungen nunmehr quasi durch Zeitablauf wegen des
Anonymitätsinteresses eines ehemaligen Straftäters zu sperren sind.
MIR 2006, Dok. 201
Bearbeiter: Rechtsanwalt Thomas Ch. Gramespacher
Online seit: 27.10.2006
Kurz-Link zum Artikel: http://miur.de/419
*Redaktionell. Amtliche Leit- und Orientierungssätze werden in einer "Anm. der Redaktion" benannt.
// Artikel gesammelt "frei Haus"? Hier den MIR-Newsletter abonnieren
BGH, Beschluss vom 10.11.2022 - I ZB 10/22, MIR 2023, Dok. 004
Zeitsprung 1883 - Zur Irreführung bei der Werbung für hochwertige Uhren mit der Angabe und Darstellung "Zeitsprung 1883"
OLG Köln, Urteil vom 23.12.2020 - 6 U 74/20, MIR 2021, Dok. 023
Presserechtliche Informationsschreiben an Presseunternehmen können zulässig sein
Bundesgerichtshof, MIR 2019, Dok. 002
Rechtsberatung durch Architektin - Die Vertretung von einem Grundstückseigentümer in einem Widerspruchsverfahren durch eine Architektin stellt keine erlaubte Rechtsdienstleistung dar
BGH, Urteil vom 11.02.2021 - I ZR 227/19, MIR 2021, Dok. 019
Aldi Süd - Bei der Werbung mit einer Preisermäßigung ist die Vorteilhaftigkeit des beworbenen Preises auf Grundlage des vorherigen Preises des betreffenden Artikels im Sinne von Art. 6 Abs. 2 Richtlinie 98/6/EG zu bestimmen
EuGH, Urteil vom 26.09.2024 - C‑330/23, MIR 2024, Dok. 077