Rechtsprechung
LG Frankfurt a.M., Urteil vom 5.10.2006 - Az. 2/3 O 305/06
Dem Informationsinteresse der Öffentlichkeit über schwere Straftaten kommt grundsätzlich nur im Rahmen der aktuellen Presseberichterstattung, also im unmittelbarem zeitlichen Zusammenhang mit der Tat und einem Strafverfahren der Vorrang gegenüber dem Persönlichkeitsrecht des Täters unter dem Gesichtspunkt des Anonymitätsinteresses, zu.
BGB §§ 823 Abs. 1, Abs. 2, 1004
Leitsätze:*1. Eine öffentliche Berichterstattung über einen in der Vergangenheit rechtskräftig verurteilten Straftäter unter
identifizierender Namensnennung beeinträchtigt dessen Persönlichkeitsrecht erheblich, weil sein Fehlverhalten öffentlich bekannt und
seine Person in den Augen des Publikums, insbesondere bei grausamen Taten, negativ qualifiziert wird. Die Austrahlungswirkung
des verfassungsrechtlichen Schutzes der Persönlichkeit lässt es deshalb nicht zu, dass die Medien sich über die aktuelle Berichterstattung
hinaus zeitlich unbeschränkt mit der Person eines Straftäter befassen. Vielmehr gewinnt nach Befriedigung des aktuellen
Informationsinteresses sein Recht, "allein gelassen zu werden", zunehmende Bedeutung und setzt den Wunsch der Massenmedien und
einem Bedürfnis des Publikums, Straftat und -täter zum Gegenstand der Erörterung oder gar der Unterhaltung zu machen, Grenzen.
2. Auch der Straftäter bleibt Glied der Gemeinschaft mit dem verfassungsrechtlichen Anspruch auf Schutz seiner Individualität.
3. Dem Informationsinteresse der Öffentlichkeit über schwere Straftaten kommt grundsätzlich nur im Rahmen der aktuellen
Presseberichterstattung, also im unmittelbarem zeitlichen Zusammenhang mit der Tat und einem Strafverfahren, der Vorrang gegenüber
dem Persönlichkeitsrecht des Täters unter dem Gesichtspunkt des Anonymitätsinteresses, zu.
4. Hat die öffentliches Interesse veranlassende Tat mit der strafgerichtlichen Verurteilung die im Interesse des öffentlichen
Wohls gebotene gerechte Reaktion erfahren und ist die Öffentlichkeit hierüber hinreichend informiert worden, so lassen sich darüber
hinausgehende fortgesetzte oder wiederholte Eingriffe in den Persönlichkeitsbereich des Täters durch eine Berichterstattung in der Regel
nicht rechtfertigen. In diesem Zusammenhang ist zu berücksichtigen, dass die zeitliche Grenze für eine Berichterstattung unter
Namensnennung erheblich früher anzusetzen ist als auf das Ende der Strafverbüßung.
5. Niemand verliert den Schutz seiner Privatsphäre dadurch, dass über ihn unzulässigerweise berichtet wurde und er dagegen nichts
unternommen hat. Der Umstand, dass Medien bzw. die Presse unter Namensnennung - und gegebenenfalls bildlicher Abbildung - des Betroffenen
über diesen berichten, stellt keinen Freibrief für andere Medien dar, es diesen gleich zu tun.
6. Grundsätzlich kann die Wiederholungsgefahr zur Vermeidung einer gerichtlichen Entscheidung entsprechend der im Wettbewerbsrecht
geltenden Praxis auch in medienrechtlichen Auseinandersetzungen nur durch Abgabe einer mit einem Vertragsstrafeversprechend versehenen
Unterlassungserklärung beseitigt werden.
MIR 2006, Dok. 178
Bearbeiter: Rechtsanwalt Thomas Ch. Gramespacher
Online seit: 07.10.2006
Kurz-Link zum Artikel: http://miur.de/396
*Redaktionell. Amtliche Leit- und Orientierungssätze werden in einer "Anm. der Redaktion" benannt.
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