Kurz notiert
Bundesverfassungsgericht
Unterlassungsanspruch bei mehrdeutigen Äußerungen - Verfassungsrechtliche Vorgaben für die Deutung mehrdeutiger Tatsachenbehauptungen oder Werturteile unterscheiden sich grundlegend, je nach dem, ob die nachträgliche Sanktionierung schon erfolgter Äußerungen oder allein deren zukunftsgerichtete Abwehr in Frage steht.
BVerfG, Beschluss vom vom 24. Mai 2006 – 1 BvR 49/00; 1 BvR 55/00; 1 BvR 2031/00
MIR 2006, Dok. 085, Rz. 1
1
Die 1. Kammer des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts hat erneut
klargestellt, dass sich die verfassungsrechtlichen Vorgaben für die
Deutung mehrdeutiger Tatsachenbehauptungen oder Werturteile grundlegend
unterscheiden, je nach dem, ob die nachträgliche Sanktionierung schon
erfolgter Äußerungen oder allein deren zukunftsgerichtete Abwehr in
Frage steht (vgl. hierzu auch Pressemitteilung des Bundesverfassungsgerichts
Nr. 115/2005 vom 16.November 2005 - abzurufen unter www.bverfg.de).
Sachverhalt:
Im Oktober 1997 verteilten zwei Abtreibungsgegner Flugblätter auf dem Gelände des Klinikums N. Auf der Vorderseite des Flugblatts wurde ein Arzt für Frauenheilkunde und Geburtshilfe, der seine auf Schwangerschaftsabbrüche spezialisierte Praxis als rechtlich selbständigen Betrieb auf dem Gelände des Klinikums führt, namentlich benannt. Auf der Rückseite des Flugblatts findet sich unter anderem folgender Text: „Stoppen Sie den Kinder-Mord im Mutterschoß auf dem Gelände des Klinikums, damals: Holocaust – heute: Babycaust“. Im Rahmen eines zivilgerichtlichen Rechtsstreits nahm der Arzt die beiden Abtreibungsgegner auf Unterlassung der Verbreitung der Aussagen auf dem Flugblatt in Anspruch. Das Oberlandesgericht gab dem Unterlassungsanspruch nicht statt. Die hiergegen gerichtete Verfassungsbeschwerde hatte überwiegend Erfolg.
Die Abtreibungsgegner wurden wegen Beleidigung des Arztes und der Klinikträgerin zu einer Geldstrafe verurteilt. Ihre Verfassungsbeschwerde war teilweise erfolgreich.
Der Entscheidung lagen im Wesentlichen folgende Erwägungen zu Grunde:
1. Unterlassungsklage des Arztes
Das Oberlandesgericht sieht in der Äußerung „Kinder-Mord im Mutterschoß“ nachvollziehbar eine mehrdeutige Aussage. Bei deren Deutung geht es allerdings davon aus, dass der Begriff des „Mordes“ nicht im rechtstechnischen Sinne, sondern im Sinne des allgemeinen Sprachgebrauchs zu verstehen sei und daher ein Unterlassungsanspruch nicht bestehe. Dabei verkennt es, dass die verfassungsrechtlichen Vorgaben für die Deutung mehrdeutiger Äußerungen sich grundlegend unterscheiden, je nach dem, ob die nachträgliche Sanktionierung schon erfolgter Äußerungen oder allein deren zukunftsgerichtete Abwehr in Frage steht.
Allein für nachträglich an eine Äußerung anknüpfende rechtliche Sanktionen – wie eine strafrechtliche Verurteilung oder die zivilgerichtliche Verurteilung zum Widerruf oder zum Schadensersatz – gilt im Interesse der Meinungsfreiheit, insbesondere zum Schutz vor Einschüchterungseffekten bei mehrdeutigen Äußerungen, der Grundsatz, dass die Sanktion nur in Betracht kommt, wenn die dem Äußernden günstigeren Deutungsmöglichkeiten mit hinreichender Begründung ausgeschlossen worden sind. Steht demgegenüber ein zukunftsgerichteter Anspruch auf Unterlassung künftiger Persönlichkeitsbeeinträchtigungen in Frage, wird die Meinungsfreiheit nicht verletzt, wenn von dem Betroffenen im Interesse des Persönlichkeitsschutzes anderer verlangt wird, den Inhalt seiner mehrdeutigen Aussage gegebenenfalls klarzustellen. Geschieht dies nicht, sind die nicht fern liegenden Deutungsmöglichkeiten zu Grunde zu legen und es ist zu prüfen, ob die Äußerung in einer oder mehrerer dieser Deutungsvarianten zu einer rechtswidrigen Beeinträchtigung des Persönlichkeitsrechts führt. Diese Grundsätze sind nicht auf Tatsachenaussagen begrenzt, sondern ebenso maßgeblich, wenn wie vorliegend ein das Persönlichkeitsrecht beeinträchtigendes Werturteil in Frage steht.
Nach diesen verfassungsrechtlichen Vorgaben musste das Oberlandesgericht im Rahmen des Unterlassungsbegehrens auch die andere mögliche Auslegung zu Grunde legen, nämlich die, dass „Mord“ im rechtstechnischen Sinne zu verstehen war. Dasselbe gilt für den gegen den Arzt gerichteten Vergleich zwischen nationalsozialistischem Holocaust und dem ihm angelasteten „Babycaust“. Auch insoweit handelt es sich um eine mehrdeutige Äußerung. Sie konnte nicht nur als Vorwurf einer verwerflichen Massentötung menschlichen Lebens verstanden werden, sondern auch im Sinne einer unmittelbaren Gleichsetzung von nationalsozialistischem Holocaust und der als „Babycaust“ umschriebenen Tätigkeit des Beschwerdeführers.
2. Verurteilung der Abtreibungsgegner
Das Bundesverfassungsgericht stellte fest, dass die Verurteilung der Abtreibungsgegner wegen Beleidigung des Arztes verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden sei. Nicht tragfähig seien jedoch die Erwägungen des Gerichts dazu, dass auch eine Beleidigung zum Nachteil der Klinikträgerin verwirklicht worden sei. Das Gericht hätte klären müssen, ob sich die Äußerung auf die Klinikträgerin oder auf die im Klinikum tätigen Einzelpersonen bezogen habe, da beide Formen der Beleidigung unterschiedlichen verfassungsrechtlichen Begründungsanforderungen unterliegen. Bejahe das Gericht Mehrdeutigkeit, müsse es die für die Beschuldigten günstigere Deutung der strafrechtlichen Beurteilung zu Grunde legen.
(tg)
Quelle: PM des Bundesverfassungsgericht Nr. 55/2006 vom 22. Juni 2006
Sachverhalt:
Im Oktober 1997 verteilten zwei Abtreibungsgegner Flugblätter auf dem Gelände des Klinikums N. Auf der Vorderseite des Flugblatts wurde ein Arzt für Frauenheilkunde und Geburtshilfe, der seine auf Schwangerschaftsabbrüche spezialisierte Praxis als rechtlich selbständigen Betrieb auf dem Gelände des Klinikums führt, namentlich benannt. Auf der Rückseite des Flugblatts findet sich unter anderem folgender Text: „Stoppen Sie den Kinder-Mord im Mutterschoß auf dem Gelände des Klinikums, damals: Holocaust – heute: Babycaust“. Im Rahmen eines zivilgerichtlichen Rechtsstreits nahm der Arzt die beiden Abtreibungsgegner auf Unterlassung der Verbreitung der Aussagen auf dem Flugblatt in Anspruch. Das Oberlandesgericht gab dem Unterlassungsanspruch nicht statt. Die hiergegen gerichtete Verfassungsbeschwerde hatte überwiegend Erfolg.
Die Abtreibungsgegner wurden wegen Beleidigung des Arztes und der Klinikträgerin zu einer Geldstrafe verurteilt. Ihre Verfassungsbeschwerde war teilweise erfolgreich.
Der Entscheidung lagen im Wesentlichen folgende Erwägungen zu Grunde:
1. Unterlassungsklage des Arztes
Das Oberlandesgericht sieht in der Äußerung „Kinder-Mord im Mutterschoß“ nachvollziehbar eine mehrdeutige Aussage. Bei deren Deutung geht es allerdings davon aus, dass der Begriff des „Mordes“ nicht im rechtstechnischen Sinne, sondern im Sinne des allgemeinen Sprachgebrauchs zu verstehen sei und daher ein Unterlassungsanspruch nicht bestehe. Dabei verkennt es, dass die verfassungsrechtlichen Vorgaben für die Deutung mehrdeutiger Äußerungen sich grundlegend unterscheiden, je nach dem, ob die nachträgliche Sanktionierung schon erfolgter Äußerungen oder allein deren zukunftsgerichtete Abwehr in Frage steht.
Allein für nachträglich an eine Äußerung anknüpfende rechtliche Sanktionen – wie eine strafrechtliche Verurteilung oder die zivilgerichtliche Verurteilung zum Widerruf oder zum Schadensersatz – gilt im Interesse der Meinungsfreiheit, insbesondere zum Schutz vor Einschüchterungseffekten bei mehrdeutigen Äußerungen, der Grundsatz, dass die Sanktion nur in Betracht kommt, wenn die dem Äußernden günstigeren Deutungsmöglichkeiten mit hinreichender Begründung ausgeschlossen worden sind. Steht demgegenüber ein zukunftsgerichteter Anspruch auf Unterlassung künftiger Persönlichkeitsbeeinträchtigungen in Frage, wird die Meinungsfreiheit nicht verletzt, wenn von dem Betroffenen im Interesse des Persönlichkeitsschutzes anderer verlangt wird, den Inhalt seiner mehrdeutigen Aussage gegebenenfalls klarzustellen. Geschieht dies nicht, sind die nicht fern liegenden Deutungsmöglichkeiten zu Grunde zu legen und es ist zu prüfen, ob die Äußerung in einer oder mehrerer dieser Deutungsvarianten zu einer rechtswidrigen Beeinträchtigung des Persönlichkeitsrechts führt. Diese Grundsätze sind nicht auf Tatsachenaussagen begrenzt, sondern ebenso maßgeblich, wenn wie vorliegend ein das Persönlichkeitsrecht beeinträchtigendes Werturteil in Frage steht.
Nach diesen verfassungsrechtlichen Vorgaben musste das Oberlandesgericht im Rahmen des Unterlassungsbegehrens auch die andere mögliche Auslegung zu Grunde legen, nämlich die, dass „Mord“ im rechtstechnischen Sinne zu verstehen war. Dasselbe gilt für den gegen den Arzt gerichteten Vergleich zwischen nationalsozialistischem Holocaust und dem ihm angelasteten „Babycaust“. Auch insoweit handelt es sich um eine mehrdeutige Äußerung. Sie konnte nicht nur als Vorwurf einer verwerflichen Massentötung menschlichen Lebens verstanden werden, sondern auch im Sinne einer unmittelbaren Gleichsetzung von nationalsozialistischem Holocaust und der als „Babycaust“ umschriebenen Tätigkeit des Beschwerdeführers.
2. Verurteilung der Abtreibungsgegner
Das Bundesverfassungsgericht stellte fest, dass die Verurteilung der Abtreibungsgegner wegen Beleidigung des Arztes verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden sei. Nicht tragfähig seien jedoch die Erwägungen des Gerichts dazu, dass auch eine Beleidigung zum Nachteil der Klinikträgerin verwirklicht worden sei. Das Gericht hätte klären müssen, ob sich die Äußerung auf die Klinikträgerin oder auf die im Klinikum tätigen Einzelpersonen bezogen habe, da beide Formen der Beleidigung unterschiedlichen verfassungsrechtlichen Begründungsanforderungen unterliegen. Bejahe das Gericht Mehrdeutigkeit, müsse es die für die Beschuldigten günstigere Deutung der strafrechtlichen Beurteilung zu Grunde legen.
(tg)
Quelle: PM des Bundesverfassungsgericht Nr. 55/2006 vom 22. Juni 2006
Der Beschluss ist unter http://www.bverfg.de/entscheidungen.html
im Volltext abrufbar.
Online seit: 22.06.2006
Kurz-Link zum Artikel: http://miur.de/300
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