Rechtsprechung
LG Darmstadt, Beschluss vom 09.10.2008 - 9 Qs 490/08 (721 Js 35200/08 - StA Darmstadt)
Interesse der Rechteinhaber an Akteneinsicht in Filesharingfällen überwiegt - Bei der nach § 406e Abs. 2 StPO vorzunehmenden Interessenabwägung ist zu berücksichtigen, dass der Nutzer eines Filesharing-Netzwerkes selbst seine IP-Adresse preisgibt. Die Namhaftmachung des Anschlussinhabers betrifft nur die Bestandsdaten.
StPO §§ 161a Abs. 3, 406e Abs. 4 Satz 2; UrhG §§ 97, 101; BGB § 1004; GG Art. 1 Abs. 1, Art. 2 Abs. 1, Art. 12 Abs. 1
Leitsätze:*1. In Filesharingfällen stehen sich im Rahmen der nach § 406e Abs. 2 StPO erforderlichen Interessenabwägung die
Rechte der Rechteinhaber aus Art. 2 Abs. 1, 12 Abs. 1 und Art. 14 Abs. 1 GG dem Recht der Beschuldigten aus Art. 1 Abs. 1
und 2 Abs. 1 GG gegenüber. Dabei ist zu berücksichtigen, dass der Nutzer von Internettauschbörsen bzw. Filesharing-Netzwerken
selbst seine IP-Adresse preisgibt, auf Grundlage derer die Namhaftmachung des jeweiligen Anschlussinhabers begehrt wird.
Begehrt wird insoweit nur die Erhebung der entsprechenden Bestandsdaten und nicht etwa von durch das Datenschutzrecht und
das Fernmeldegeheimnis umfassender geschützten Verkehrsdaten (vgl. dazu: LG Stralsund, Beschluss vom 11.07.2008 -
26 Qs 177/08 = MIR 2008, Dok. 311).
2. Auch mit Blick auf den Anschlussinhaber, der an einem Urheberrechtsverstoß nicht selbst schuldhaft mitgewirkt hat, besteht ein
berechtigtes Interesse der Rechteinhaber (Musikindustrie) i.S.v. § 406e StPO. Ein solches Interesse lässt sich auch aus
bürgerlich-rechtlichen Ansprüchen herleiten und kommt im Fall des Filesharing vor dem Hintergrund einer
verschuldensunabhängigen Störerhaftung des Anschlussinhabers aus § 97 UrhG, § 1004 BGB in Betracht (m.w.N.).
3. Das "gewerbliche Ausmaß" i.S.v § 101 Abs. 1 Satz 2 UrhG kann sich aus der Anzahl als auch der Schwere der Rechtsverletzungen
ergeben. Der Begriff ist im Lichte sekundären Gemeinschaftsrechts dahin auszulegen, dass die Rechtsverletzungen zwecks
Erlangung eines "wirtschaftlichen oder kommerziellen Vorteils vorgenommen werden" (Erwägungsgrund 14 - Richtlinie 2004/48/EG -
Enforcement-Richtlinie). Dabei muss die Erlangung des wirtschaftlichen oder kommerziellen Vorteils nicht notwendig auf Geld gerichtet
sein, sondern kann sich vielmehr auf jeden beliebigen Vermögensvorteil beziehen (hier: Herunterladen von Musikstücken, die sonst
nur gegen Entgelt zu erlangen wären). Der Begriff des "gewerblichen Ausmaßes" i.S.v. § 101 Abs. 1 Satz 2 UrhG ist
insofern nicht nach handelsrechtlicher Definition auf eine dauerhafte, gewinnorientierte Tätigkeit am Markt zu beschränken.
4. Das Bereithalten von 620 Audiodateien überwiegend gängiger Titel - hier zudem in einer mehrstündigen Session - stellt
ein gewerbliches Ausmaß i.S.v. § 101 UrhG.
5. Es ist davon auszugehen, dass Nutzer eines Filesharing-Netzwerkes regelmäßig nicht "im Guten Glauben" handeln.
Bearbeiter: RA Thomas Gramespacher
Online seit: 21.10.2008
Kurz-Link zum Artikel: http://miur.de/1781
*Redaktionell. Amtliche Leit- und Orientierungssätze werden in einer "Anm. der Redaktion" benannt.
// Artikel gesammelt "frei Haus"? Hier den MIR-Newsletter abonnieren
EuGH, Urteil vom 24.11.2020 - C‑59/19, MIR 2020, Dok. 087
EuGH-Vorlage zum Vertrieb von Arzneimitteln über eine Internet-Verkaufsplattform (Amazon) - Verfolgung eines DSGVO-Verstoßes durch Mitbewerber und Gesundheitsdaten beim Internetvertrieb von (nur) apothekenpflichtigen Medikamenten
Bundesgerichtshof, MIR 2023, Dok. 005
Minigolf-Anlage - Zur Zulässigkeit der Vernichtung einer Kunstinstallation durch den Gebäudeinhaber
Bundesgerichtshof, MIR 2019, Dok. 006
Gesetzlichkeitsfiktion nur bei unveränderter Übernahme - Die Schutzwirkung der Gesetzlichkeitsfiktion gemäß Art. 246a § 1 Abs. 2 Satz 2 EGBGB kommt dem Unternehmer nur bei unveränderter Übernahme der Muster-Widerrufsbelehrung zugute
BGH, Urteil vom 01.12.2022 - I ZR 28/22, MIR 2022, Dok. 023
Seigniorage-Einkünfte der EZB stammen nicht aus der Nutzung des Werks - Kein Nachvergütungsanspruch wegen Darstellung der europäischen Landmasse auf den Euro-Banknoten
Oberlandesgericht Frankfurt a.M., MIR 2024, Dok. 021