Rechtsprechung
LG Frankenthal, Beschluss vom 21.05.2008 - 6 O 156/08
Provider-Auskunft bei Urheberrechtsverletzungen zivilrechtlich nicht verwertbar? - Bei der dynamischen IP-Adresse eines Internet-Anschlussinhabers nebst zugehörigen Kundendaten handelt es sich um ein Verkehrsdatum, dessen Abruf und Übermittlung nur beim Verdacht schwerer Straftat zulässig ist.
TKG §§ 3 Nr. 3, Nr. 30, 96 Abs. 1 Nr. 1; BDSG § 3 Abs. 1; StPO § 100a Abs. 2; GG Art. 10 Abs. 1
Leitsätze:*1. Bei der dynamischen IP-Adresse eines Internet-Anschlussinhabers nebst den dazu gehörigen Kundendaten handelt es sich um ein Verkehrsdatum
- personenbezogene Berechtigungskennung - i.S.v §§ 3 Nr. 30, 96 Abs. 1 Nr. 1 TKG)
und nicht um ein Bestandsdatum (§ 3 Nr. 3 TKG; a.A. nach Auffassung des Gerichts: LG Offenburg, Beschluss vom 17.04.2008 - Az. 3 Qs 83/07 =
MIR 2008, Dok. 136.
Die dynamische IP-Adresse steht im Zusammenhang mit der Inanspruchnahme von Telekommunikationsdiensten.
2. Für Verkehrsdaten besteht ein strenger Schutz, insbesondere unterliegen sie dem Fernmeldegeheimnis (Art. 10 GG).
Diese Daten dürfen nur dann - von dem Provider an staatliche Behörden (hier: Staatsanwaltschaft) - herausgegeben bzw. abgerufen und
übermittelt werden, wenn der Verdacht auf Verübung einer schweren Straftat i.S.d. § 100a Abs. 2 StPO besteht. Dies ist bei einer
Urheberrechtsverletzung nicht der Fall. Bereits in dem Abruf dieser Daten liegt ein schwerwiegender und
irreparabler Eingriff in das Grundrecht aus Art. 10 Abs. 1 GG (BVerfG, Beschluss vom 11.03.2008 – Az. 1 BvR 256/08).
3. Personenbezogene Daten sind Einzelangaben über bestimmte natürliche Personen (§ 3 Abs. 1 BDSG). Bei der Prüfung,
ob eine Person bestimmbar ist, müssen alle Mittel berücksichtigt werden, die vernünftigerweise vom Verantwortlichen
für die Verarbeitung eingesetzt werden können, um die betroffene Person zu bestimmen. Erforderlich ist somit
eine wertende Betrachtung. Es kommt auf die Kenntnisse, Mittel und Möglichkeiten der speichernden Stelle an. Diese muss
den Bezug mit den ihr normalerweise zur Verfügung stehenden Hilfsmitteln und ohne unverhältnismäßigen Aufwand durchführen
können. Der Begriff des Personenbezugs ist damit relativ.
4. Für den Access-Provider ist der Personenbezug einer (dynamischen) IP-Adresse grundsätzlich offensichtlich.
Alle anderen Diensteanbieter können den Personenbezug nur in Zusammenarbeit mit dem Access-Provider herstellen.
Dynamische IP-Adressen haben daher einen relativen Personenbezug.
5. Die IP-Adresse ermöglicht selbst keine unverwechselbare Individualisierung desjenigen Anschlussinhabers, der diese Adresse
zum Tatzeitpunkt benutzt hat, weil erst die Verknüpfung mit den Daten des jeweiligen Providers die Zuordnung zu einem
bestimmten Anschlussinhabers erlaubt. Erst die Auskunft führt zur Individualisierung. Ohne eine Auskunft sind IP-Adressen
ein technisches wie rechtliches Nullum.
6. Unabhängig der Qualifizierung einer IP-Adresse als Bestands- oder Verkehrsdatum bestehen Bedenken gegen die Verwertung
der im Rahmen einer Provider-Auskunft erlangten Daten, da es durch die Offenlegung privater Telekommunikationsdaten zu
einer Deanonymisierung kommt, die es ermöglicht, nicht für Dritte bestimmte, dem Fernmeldegeheimnis unterliegende
Daten bestimmten Personen zuzuordnen.
7. Allein das Interesse eines Rechteinhabers, sich ein Beweismittel zur Durchsetzung zivilrechtlicher Ansprüche zu sichern, reicht
nicht aus, um einen Eingriff in die Grundrechte eines (vermeintlichen) Rechteverletzers (hier: Fernmeldegeheimnis, Art. 10 GG)
aufgrund der Übermittlung von Verkehrsdaten (hier: dynamische IP-Adresse) zu rechtfertigen.
Bearbeiter: RA Thomas Gramespacher
Online seit: 12.06.2008
Kurz-Link zum Artikel: http://miur.de/1645
*Redaktionell. Amtliche Leit- und Orientierungssätze werden in einer "Anm. der Redaktion" benannt.
// Artikel gesammelt "frei Haus"? Hier den MIR-Newsletter abonnieren
Bundesgerichtshof, MIR 2021, Dok. 071
Vollziehung einer Beschlussverfügung - Die Zustellung einer von dem Prozessbevollmächtigten des Antragstellers angefertigten beglaubigten Abschrift der einfachen Abschrift einer Beschlussverfügung genügt nicht den Anforderungen gemäß §§ 928, 936 ZPO.
OLG Koblenz, Beschluss vom 04.05.2017 - 9 W 650/16, MIR 2017, Dok. 023
"im Vertrieb" - Zur Irreführung über die Lieferbarkeit eines Medikaments kurz vor Markteintritt und zur Erledigung, dem Wegfall der Dringlichkeit und dem Rechtsschutzbedürfnis bei einer zeitlich beschränkten einstweiligen Verfügung
OLG Frankfurt a.M., Urteil vom 18.08.2022 - 6 U 56/22, MIR 2022, Dok. 091
Zustellung einer deutschsprachigen Beschlussverfügung an Facebook Irland möglich - Verweigerung der Annahme nicht übersetzter Schriftstücke durch Facebook rechtsmissbräuchlich
OLG Düsseldorf, Beschluss vom 18.12.2019 - I-7 W 66/19, MIR 2020, Dok. 003
Ein-Euro- und Brötchen-Gutscheine beim Arzneimittelkauf - Gewährung von (auch geringwertigen) Werbegaben durch Apotheken unzulässig
Bundesgerichtshof, MIR 2019, Dok. 020