Rechtsprechung
BGH, Urteil vom 19.06.2007 - VI ZR 12/06
"Männer brauchen viel Zärtlichkeit! Aber nicht immer öffentlich!" - Zur Zulässigkeit von Bildveröffentlichungen in der Presse ohne Einwilligung des Abgebildeten (hier: die Lebensgefährtin von Herbert Grönemeyer)
GG Art. 2 Abs. 1, Art. 5 Abs. 1; EMRK Art. 8, Art. 10; KunstUrhG §§ 22, 23 Abs. 1 Nr. 1, Abs. 2
Leitsätze:*1. Nach § 22 KUG dürfen Bildnisse nur mit Einwilligung des Abgebildeten verbreitet werden;
hiervon besteht nach § 23 Abs. 1 Nr. 1 KUG eine Ausnahme, wenn es sich um Bildnisse aus dem
Bereich der Zeitgeschichte handelt. Diese Ausnahme gilt aber nicht für eine Verbreitung, durch
die berechtigte Interessen des Abgebildeten verletzt werden (§ 23 Abs. 2 KUG).
2. Als "relative" Person der Zeitgeschichte ist eine Person anzusehen, die durch ein
bestimmtes zeitgeschichtliches Ereignis das Interesse auf sich gezogen hat. Ohne ihre Einwilligung
darf sie nur im Zusammenhang mit diesem Ereignis abgebildet werden. Als "absolute" Person der
Zeitgeschichte gilt eine Person, die aufgrund ihres Status und ihrer
Bedeutung allgemein öffentliche Aufmerksamkeit findet, die also selbst Gegenstand der
Zeitgeschichte ist und über deshalb über sie berichtet werden darf. Auch die absolute Person der Zeitgeschichte
hat jedoch ein Recht auf Privatsphäre, das nicht auf den häuslichen Bereich beschränkt ist. Vielmehr muss sie die
Möglichkeit haben, sich an anderen, erkennbar abgeschiedenen Orten unbehelligt von Bildberichterstattung
zu bewegen (vgl. BGH, BGHZ 131, 332 ff., bestätigt von BVerfG, BVerfGE 101, 361 ff.).
3. Eine Abwägung der widerstreitenden Rechte und Grundrechte der abgebildeten Person aus Art. 8 EMRK
sowie aus Art. 1 Abs. 1, 2 Abs. 1 GG einerseits und der Presse aus Art. 10 EMRK und Art. 5 Abs. 1 Satz 2 GG
andererseits ist bereits bei der Zuordnung zum Bereich der Zeitgeschichte erforderlich. Dabei ist der Beurteilung
ein normativer Maßstab zugrunde zu legen, welcher der Pressefreiheit und zugleich dem Schutz der Persönlichkeit
und ihrer Privatsphäre ausreichend Rechnung trägt (vgl. BGH, Urteile vom 12. Dezember 1995, Az. VI ZR 223/94
= VersR 1996, 341 f.; vom 9. März 2004, Az. VI ZR 217/03 = VersR 2004, 863; vom 28. September 2004, Az. VI ZR 305/03
= VersR 2005, 83, 84; vom 19. Oktober 2004, Az. VI ZR 292/03 = VersR 2005, 84, 85 vom 6. März 2007, Az. VI ZR 13/06 =
VersR 2007, 697, 698 = MIR 2007, Dok. 140 und Az. VI ZR 51/06, Rn. 14 = MIR 2007, Dok. 257). Maßgebend ist das Interesse der Öffentlichkeit an
vollständiger Information über das Zeitgeschehen. Dabei ist der Begriff des Zeitgeschehens in § 23 Abs. 1 Nr. 1 KUG
zugunsten der Pressefreiheit zwar in einem weiten Sinn zu verstehen, doch ist das Informationsinteresse nicht
schrankenlos. Vielmehr wird der Einbruch in die persönliche Sphäre des Abgebildeten durch den Grundsatz der
Verhältnismäßigkeit - unter Berücksichtigung der Umstände des Einzelfalls - begrenzt, so dass eine Berichterstattung
keineswegs immer zulässig ist.
4. Eine Ausnahme vom Erfordernis der Einwilligung kommt grundsätzlich nur in Betracht, wenn die Berichterstattung ein
Ereignis von zeitgeschichtlicher Bedeutung betrifft (so schon BGH, BGHZ 158, 218, 222 f.; vom 19. Oktober 2004, Az. VI ZR 292/03;
vgl. BGH, Urteil vom 26. Oktober 2006, Az. I ZR 182/04, Rn. 15). Hierbei umfasst der Begriff der Zeitgeschichte
alle Fragen von allgemein gesellschaftlichem Interesse und wird damit vom Interesse der Öffentlichkeit bestimmt.
Auch unterhaltende Beiträge können - ggf. sogar stärker als sachbezogene Information - zur Meinungsbildung beitragen
(vgl. BGH, Urteile vom 9. Dezember 2003, Az. VI ZR 373/02 = VersR 2004, 522, 523 mit Anmerkung von Gerlach JZ 2004, 625;
vom 6. März 2007, Az. VI ZR 13/06 = VersR 2007, 697, 698 f. = MIR 2007, Dok. 140 und Az. VI ZR 51/06, Rn. 17 = MIR 2007, Dok. 257; BVerfG, BVerfGE 101, 361, 389 f.;
NJW 2006, 2836, 2837).
5. Zum Kern der Presse- und der Meinungsbildungsfreiheit gehört es, dass die Presse in den gesetzlichen Grenzen einen
ausreichenden Spielraum besitzt, innerhalb dessen sie nach ihren publizistischen Kriterien entscheiden kann, was
öffentliches Interesse beansprucht, und dass sich im Meinungsbildungsprozess herausstellt, was eine Angelegenheit von
öffentlichem Interesse ist (BVerfGE 101, 361, 392; BGH, Urteil vom 15. November 2005, Az. VI ZR 286/04 = VersR 2006, 274, 275;
EGMR NJW 2006, 591, 592 f.). Deshalb muss die Presse zur Wahrnehmung ihrer meinungsbildenden Aufgaben nach publizistischen
Kriterien selbst entscheiden dürfen, was sie des öffentlichen Interesses für wert hält
(vgl. BVerfGE 101, 361, 392; BGH, Urteile vom 14. März 1995, Az. VI ZR 52/94 = VersR 1995, 667, 668 f.,
bestätigt durch BVerfG, NJW 2000, 1026; vom 15. November 2005, Az. VI ZR 286/04; vom 6. März 2007, Az. VI ZR 13/06 = VersR 2007,
697, 699 und Az. VI ZR 51/06 Rn. 18).
6. Deshalb muss eine Interessenabwägung zwischen dem Informationsinteresse der Öffentlichkeit einerseits und dem Interesse des
Abgebildeten an dem Schutz seiner Privatsphäre andererseits stattfinden, bei der maßgeblich auf den Informationswert der
Abbildung abzustellen ist. Bei dieser Beurteilung darf eine etwaig im Zusammenhang zu der Abbildung stehende Wortberichterstattung
nicht unberücksichtigt bleiben (EGMR NJW 2004, 2647, 2650). Je größer der Informationswert für die Öffentlichkeit
ist, desto mehr muss das Schutzinteresse desjenigen, über den informiert wird, hinter den Informationsbelangen der Öffentlichkeit
zurücktreten. Umgekehrt wiegt der Schutz der Persönlichkeit des Betroffenen desto schwerer, je geringer der Informationswert
für die Allgemeinheit ist (vgl. BVerfGE 101, 361, 391; BGH, BGHZ 131, 332, 342 m.w.N.). Das Interesse der Leser an bloßer
Unterhaltung hat gegenüber dem Schutz der Privatsphäre regelmäßig ein geringeres Gewicht (vgl. BVerfGE 34, 269, 283; BGH,
BGHZ 131, 332, 342 m.w.N.). Einzustellen ist weiterhin, ob die Presse eine neue und wahre Information von allgemeinem Interesse
für die öffentliche Meinungsbildung mitteilt oder ob der Informationswert für die Öffentlichkeit wesentlich in der
Unterhaltung ohne gesellschaftliche Relevanz besteht (vgl. BVerfG, BVerfGE 34, 269, 283 f.; 101, 361, 390 f.; BGH, BGHZ 131,
332, 342 f.; vom 6. März 2007 - Az. VI ZR 51/06, Rn. 28 - hier: verneint).
7. Wird eine Person (hier: die Lebensgefährtin von Herbert Grönemeyer) in einer erkennbar privaten Situation
gezeigt, die in keinem Zusammenhang mit einem zeitgeschichtlichen Ereignis steht, ist eine Bildveröffentlichung
ohne die Einwilligung der Person (§ 23 Abs. 1 Nr. 1 KUG) auch dann unzulässig, wenn die in der beigefügten
Wortberichterstattung behandelten Themen als Vorgang von allgemeinem Interesse und als zeitgeschichtliches
Ereignis anzusehen wären (hier offengelassen).
Bearbeiter: Rechtsanwalt Thomas Ch. Gramespacher
Online seit: 25.07.2007
Kurz-Link zum Artikel: http://miur.de/1304
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