Rechtsprechung
Hanseatisches OLG, Urteil vom 06.12.2006 - 5 U 67/06
"forum shopping" - In der Rücknahme eines anhängigen Verfügungsantrags auf Grund einer Terminsladung und der darauf folgenden sofortigen und inhaltsgleichen Antragstellung vor einem anderen Gericht, kann ein missbräuchliches "forum shopping" liegen.
UWG § 12 Abs. 2; ZPO §§ 935, 940
Leitsätze:*1. Der gesetzlichen Vorschrift des § 12 Abs. 2 UWG liegt eine widerlegbare tatsächliche
Vermutung dergestalt zu Grunde, dass die Durchsetzung der begehrten Verbotsverfügung
in Wettbewerbssachen für den Antragsteller in der Regel von besonderer Dringlichkeit ist.
Diesem Gedanken ist nicht allein dadurch Rechnung zu tragen, dass nur kurze Fristen
als hinnehmbar angesehen werden, ohne dass eine Selbstwiderlegung der Dringlichkeitsvermutung eintritt.
Vielmehr bedarf es für die Beurteilung einer etwaigen Selbstwiderlegung der Dringlichkeitsvermutung
einer umfassenden Abwägung aller maßgeblichen Umstände des Einzelfalls, bei der die Ausnutzung
bestimmter Fristen ein wesentlicher Gesichtspunkt sein kann, aber nicht stets sein muss.
2. Macht ein Verletzter/Antragsteller einen Verfügungsantrag bei einem Gericht anhängig, nimmt diesen
Antrag jedoch unmittelbar nach einer Terminsladung zurück, um noch am selben Tag
- unter Verschweigen der vormalig anderweitigen Anhängigkeit - einen gleich lautenden
Antrag an ein anderes Gericht der gleichen Instanz zu richten, kann in diesem Verhalten ein
missbräuchliches "forum shopping" liegen, welches die Dringlichkeitsvermutung und damit
das im Rahmen der §§ 12 Abs. 2 UWG, 935, 940 ZPO erforderliche, besondere Rechtschutzbedürfnis - d.h.
den Verfügungsgrund der gewählten Verfahrensart - entfallen lässt.
3. Grundsätzlich stehen einem Verletzten/Antragsteller die sich im Rahmen des deutschen
Wettbewerbsrechts eröffnenden Möglichkeiten eines zulässigen "forum shopping" zu.
Insbesondere wenn sich der Antragssteller gegen eine Rechtsverletzung aus einem
Internetauftritt wendet, kann er sich nach Belieben einen Gerichtsstand in Deutschland
auswählen, da Angebote im Internet bundesweit verfügbar sind. Diese prozessuale Besonderheit
des sog. "fliegenden Gerichtsstandes" setzt den Antragsteller insbesondere in den Stand, sich
dasjenige Gericht in Deutschland auszusuchen, vor dem er sich die größten Erfolgsaussichten
für sein Begehren ausrechnet.
4. Ein Antragsteller hat aber kein schutzwürdiges Interesse daran, einem Gericht
den im Wege eines Eilverfahrens wegen besonderer Dringlichkeit vorgelegten
Antrag im Rahmen von § 12 Abs. 2 UWG sanktionslos wieder entziehen zu können, nur weil
zweifelhaft ist, ob das zur Entscheidung berufene Gerichts seiner Rechtsauffassung uneingeschränkt zu folgen bereit ist.
Ein Rechtsschutzbedürfnis besteht allein daran, zeitnah eine gerichtliche Überprüfung des
Sachverhalts sowie eine vollstreckbare Entscheidung zu erhalten.
Das im Rahmen von § 12 Abs. 2 UWG vorausgesetzte Rechtsschutzbedürfnis umfasst hingegen weder
das Interesse, nur solche Verfahren beschreiten zu wollen, deren Ausgang mit Sicherheit dem erwünschten Ergebnis entsprechen
noch das Interesse, eine Eilentscheidung ausschließlich ohne die Gewährung rechtlichen Gehörs des Gegners zu erlangen.
5. Im Fall des missbräuchlichen "forum-shopping" spricht es auch nicht gegen den Wegfall der
Dringlichkeit, wenn der Antragsteller durch die zweite Antragstellung noch (formal) den zeitlichen
Aspekt dringlicher Anspruchsdurchsetzung erfüllt. Denn § 12 Abs. 2 UWG ist Ausprägung eines besonderen
(umfassenden) Rechtsschutzbedürfnisses, bei dem zeitliche Aspekte eine wesentliche, nicht aber die allein entscheidende Rolle spielen.
Unter dem Begriff "forum shopping" (engl. wohl "Gerichts Einkaufsbummel") versteht man das zielgerichtete Auswählen eines Gerichts, welches dem Antrag oder der Klage mit hoher Wahrscheinlichkeit stattgeben wird. Voraussetzung ist die konkurrierende Zuständigkeit mehrerer Gerichte, welche insb. bei unerlaubten Handlungen im Internet - auf Grund des sog. "fliegenden Gerichtstandes" - gegeben ist.
Bearbeiter: Rechtsanwalt Thomas Ch. Gramespacher
Online seit: 27.05.2007
Kurz-Link zum Artikel: http://miur.de/1231
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