Rechtsprechung
BAG, Urteil vom 12.01.2006 - 2 AZR 179/05
Verhaltensbedingte Kündigung ohne vorherige Abmahnung wegen privater Internetnutzung und heimlicher Installation einer Anonymisierungssoftware.
KSchG § 1 Abs. 2
Leitsätze:*1. Für eine verhaltensbedingte Kündigung gilt das so genannte Prognoseprinzip. Der Zweck der Kündigung ist nicht eine Sanktion
für die Vertragspflichtverletzung, sondern dient der Vermeidung des Risikos weiterer Pflichtverletzungen. Die vergangene
Pflichtverletzung muss sich deshalb noch in der Zukunft belastend auswirken. Eine negative Prognose liegt vor, wenn aus der konkreten
Vertragspflichtverletzung und der daraus resultierenden Vertragsstörung geschlossen werden kann, der Arbeitnehmer werde den
Arbeitsvertrag auch nach einer Kündigungsandrohung erneut in gleicher oder ähnlicher Weise verletzen.
2. Deshalb setzt eine Kündigung wegen einer Vertragspflichtverletzung regelmäßig eine Abmahnung voraus. Sie dient der
Objektivierung der negativen Prognose. Liegt eine ordnungsgemäße Abmahnung vor und verletzt der Arbeitnehmer erneut seine vertraglichen
Pflichten, kann regelmäßig davon ausgegangen werden, es werde auch zukünftig zu weiteren Vertragsstörungen kommen. Die Abmahnung ist
insoweit notwendiger Bestandteil bei der Anwendung des Prognoseprinzips und ist zugleich auch Ausdruck des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes.
3. Nach § 1 Abs. 2 KSchG muss eine Kündigung durch das Verhalten des Arbeitnehmers bedingt sein. Eine Kündigung ist nicht gerechtfertigt,
wenn es andere geeignete mildere Mittel gibt, um die Vertragsstörung zukünftig zu beseitigen.
4. Durch die Installation einer Anonymisierungssoftware auf einem betrieblichen Rechner des Arbeitgebers kann ein Arbeitnehmer
seine arbeitsvertraglichen Pflichten schwer verletzt haben und eine verhaltensbedingte Kündigung ohne vorherige Abmahnung gerechtfertigt sein.
Dies gilt jedenfalls, soweit dem Arbeitnehmer die Rechtswidrigkeit seines Verhaltens ohne weiteres erkennbar ist und er mit einer Hinnahme
seines Handelns durch den Arbeitnehmer offensichtlich nicht rechnen kann und umso mehr, wenn die Installation durch den Arbeitnehmer
heimlich erfolgt und er den Arbeitnehmer auch nicht später von der Installation in Kenntnis gesetzt hat.
(hier: Auf Grund der Dienstanweisung und der Dienstvereinbarung wusste der Arbeitnehmer, dass auf dem Dienstrechner keine private bzw. fremde
Software geladen werden durfte. Ferner musste es sich ihm aufdrängen, dass insbesondere die Installation einer "Anonymisierungssoftware"
dem Interesse des Arbeitnehmers eklatant zuwiderläuft. Aus den Hinweisen zum dem betreffenden Programm konnte der Arbeitnehmer zu dem
deutlich erkennen, dass niemand, also auch nicht der beklagte Arbeitgeber, herausbekommen kann, wann und welche Verbindungen zu einem
bestimmten Rechner aufgebaut worden sind. Mit der Installation der Anonymisierungssoftware hat deshalb der Kläger nicht nur in das
Betriebsmittel des Beklagten erheblich eingegriffen, sondern dem Arbeitgeber auch die Möglichkeit genommen, sein technisches
Betriebsmittel ggf. zu überwachen bzw. zu kontrollieren.)
5. Die Tatsache, dass der Arbeitnehmer sofort nach Erhalt eines reparierten Rechners grob pflichtwidrig erneut eine Anonymisierungssoftware
installiert, spricht für die negative Prognose, der Arbeitnehmer werde auch zukünftig seine arbeitsvertraglichen Pflichten nicht einhalten.
MIR 2007, Dok. 077
Bearbeiter: Rechtsanwalt Thomas Ch. Gramespacher
Online seit: 28.02.2007
Kurz-Link zum Artikel: http://miur.de/579
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