Rechtsprechung // Wettbewerbsrecht
BGH, Urteil vom 22.07.2021 - I ZR 123/20
Vorstandsabteilung - Tatsächliche Umstände, die gegen eine geschäftliche Relevanz eines als Irreführung beanstandeten Verhaltens i.S.v. § 5 Abs. 1 Satz 1 UWG sprechen, liegen in der Darlegungs- und Beweislast der in Anspruch genommenen Partei
ZPO § 138 Abs. 1, 2 und 4 ZPO; UWG § 3 Abs. 1, § 5 Abs. 1 Satz 1 und 2 Nr. 3, § 8 Abs. 1 Satz 1
Leitsätze:*1.
a) Die im Internetauftritt einer Rechtsanwältin enthaltene unzutreffende Behauptung, derzeit Mitglied der Vorstandsabteilung für Vermittlungen einer Rechtsanwaltskammer zu sein, ist eine irreführende geschäftliche Handlung, die auch dann im Sinne des § 5 Abs. 1 Satz 1 UWG geeignet ist, den Verbraucher oder sonstigen Marktteilnehmer zu einer geschäftlichen Handlung zu veranlassen, die er andernfalls nicht getroffen hätte, wenn in der Vergangenheit eine solche Mitgliedschaft bestanden hat.
b) Tatsächliche Umstände, die gegen eine geschäftliche Relevanz des als Irreführung beanstandeten Verhaltens im Sinne des § 5 Abs. 1 Satz 1 UWG sprechen, liegen in der Darlegungs- und Beweislast der auf Unterlassung in Anspruch genommenen Partei.
c) Eine Rechtsanwaltsgesellschaft, die gegen eine Rechtsanwältin wegen der als unzutreffend beanstandeten Behauptung einer derzeitigen Mitgliedschaft in der Vorstandsabteilung für Vermittlungen einer Rechtsanwaltskammer Klage erhoben hat, kann den Vortrag der Beklagten, zu einem früheren Zeitpunkt Mitglied dieser Vorstandsabteilung gewesen zu sein, gemäß § 138 Abs. 4 ZPO wirksam mit Nichtwissen bestreiten.
2. Nach den Regeln der gestuften Darlegungslast, die an die Vorschrift des § 138 Abs. 2 ZPO anknüpfen, hängen die Anforderungen an die Substantiierungslast des Bestreitenden zunächst davon ab, wie substantiiert der darlegungspflichtige Gegner vorgetragen hat. In der Regel genügt gegenüber einer Tatsachenbehauptung der darlegungspflichtigen Partei das einfache Bestreiten des Gegners. Ob und inwieweit die nicht darlegungsbelastete Partei ihren Sachvortrag substantiieren muss, lässt sich nur aus dem Wechselspiel von Vortrag und Gegenvortrag bestimmen (vgl. BGH, Urteil vom 25.05.2020 - VI ZR 252/19, BGHZ 225, 316 Rn. 36 mwN). Die nicht darlegungsbelastete Partei kann sich also nicht auf ein substanzloses Bestreiten zurückziehen, wenn ihr nach Lage der Dinge ein substantiiertes Bestreiten möglich ist. Demgegenüber ermöglicht § 138 Abs. 4 ZPO einer Partei, sich zu Tatsachen, die weder eigene Handlungen der Partei noch Gegenstand ihrer eigenen Wahrnehmung gewesen sind, mit Nichtwissen zu erklären. Auf diese Weise kann die Partei die Beweisbedürftigkeit einer ihr unbekannten Tatsache herstellen, die möglicherweise wahr ist und deshalb unter Beachtung der Wahrheitspflicht gemäß § 138 Abs. 1 ZPO nicht (als unwahr) bestritten werden darf. Den eigenen Handlungen oder Wahrnehmungen im Sinne des § 138 Abs. 4 ZPO sind dabei Vorgänge im eigenen Geschäfts- und Verantwortungsbereich gleichgestellt. Die Partei hat eine Erkundigungspflicht, sofern die maßgebenden Tatsachen Personen bekannt sind, die in ihrem Unternehmensbereich oder unter ihrer Anleitung, Aufsicht oder Verantwortung tätig geworden sind. Dies hat zur Folge, dass eine Erklärung mit Nichtwissen unzulässig ist, wenn und soweit diese Informationspflicht besteht (vgl. BGH, Urteil vom 10.10.1994 - II ZR 95/93; BGH, Urteil vom 07.10.1998 - VIII ZR 100/97; BGH, Urteil vom 02.07.2009 - III ZR 333/08; BGH, Beschluss vom 28.03.2019 - I ZR 179/18). Darf sich eine Partei gemäß § 138 Abs. 4 ZPO mit Nichtwissen erklären, so kommt die Annahme einer Verpflichtung zum substantiierten Bestreiten nicht in Betracht. Unternimmt diese Partei gleichwohl den Versuch, ihr Bestreiten näher zu begründen, führt das auch dann nicht zur Unbeachtlichkeit ihrer Erklärung mit Nichtwissen, wenn sie dabei eine Behauptung ins Blaue hinein aufstellt (BGH, Beschluss vom 29.11.2018 - I ZR 5/18).
Bearbeiter: Rechtsanwalt Thomas Ch. Gramespacher
Online seit: 28.09.2021
Kurz-Link zum Artikel: http://miur.de/3116
*Redaktionell. Amtliche Leit- und Orientierungssätze werden in einer "Anm. der Redaktion" benannt.
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