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Kurz notiert



Bundesgerichtshof

Online-Archive - Im Veröffentlichungszeitpunkt zulässige Mitschriften nicht mehr aktueller Rundfunkbeiträge dürfen grundsätzlich auch unter voller Namensnennung verurteilter Straftäter zum Abruf im Internet bereitgehalten werden.

BGH, Urteile vom 15.12.2009 - Az. VI ZR 227/08 und Az. VI ZR 228/08; Vorinstanzen: LG Hamburg, Entscheidungen vom 29.02.2008 - Az. 324 O 459/07 und Az. 469/07; OLG Hamburg, Entscheidungen vom 29.07.2008 - Az. 7 U 30/08 und 7 U 31/08

MIR 2009, Dok. 251, Rz. 1


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Mit zwei Urteilen vom 15.12.2009 (Az. VI ZR 227/08 und Az. VI ZR 228/08) hat der Bundesgerichtshof (BGH) entschieden, dass den 1993 wegen Mordes an dem Schauspieler Walter Sedlmayr Verurteilten gegen Deutschlandradio kein Anspruch auf Unterlassung der weiteren Bereithaltung von Mitschriften nicht mehr aktueller Rundfunkbeiträge im Zusammenhang mit dem Mord an Walter Selmayr, in denen auch der volle Name der Verurteilten genannt wird, im Online-Archiv des Internetauftritts www.dradio.de zusteht.

Zur Sache

Die Kläger wurden im Jahr 1993 wegen Mordes an dem Schauspieler Walter Sedlmayr zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe verurteilt und 2007 bzw. 2008 auf Bewährung entlassen. Die Kläger nahmen die Beklagte - Deutschlandradio - in Anspruch es zu unterlassen, über sie im Zusammenhang mit der Tat unter voller Namensnennung zu berichten. Jedenfalls bis 2007 hielt Deutschlandradio auf seiner Internetseite www.dradio.de in der Rubrik "Kalenderblatt" die Mitschrift eines auf den 14. Juli 2000 datierten Beitrags mit dem Titel "Vor 10 Jahren Walter Sedlmayr ermordet" zum freien Abruf bereit. Unter Nennung des Vor- und Zunamens der Kläger hieß es dort wahrheitsgemäß unter anderem, Sedlmayrs Kompagnon W. und dessen Bruder L. seien 1993 nach einem sechsmonatigen Indizienprozess zu lebenslanger Haft verurteilt worden. Die beiden beteuerten bis heute ihre Unschuld und seien erst in diesem Jahr vor dem Bundesverfassungsgericht mit der Forderung gescheitert, den Prozess wiederaufzurollen.

Die Vorinstanzen (Landgericht Hamburg und Hanseatisches Oberlandesgericht) gaben den Klägern Recht. Auf die Revision der Beklagten hat der Bundesgerichtshof die Urteile aufgehoben und die Klagen abgewiesen.

Entscheidung des BGH: Im Veröffentlichungszeitpunkt zulässige Mitschriften nicht mehr aktueller Rundfunkbeiträge dürfen grundsätzlich auch unter voller Namensnennung verurteilter Straftäter in einem Online-Archiv zum Abruf bereitgehalten werden - Einzelfallabwägung zwischen Prsönlichkeitsrecht der Betroffenen, des Informationsinteresses der Öffentlichkeit und der Meinungs- und Medienfreiheit

Zwar liege in dem Bereithalten der die Kläger identifizierenden Meldung zum Abruf im Internet ein Eingriff in deren allgemeines Persönlichkeitsrecht. Der Eingriff sei aber nicht rechtswidrig, da im Streitfall das Schutzinteresse der Kläger hinter dem von der Beklagten verfolgten Informationsinteresse der Öffentlichkeit und ihrem Recht auf freie Meinungsäußerung zurückzutreten habe. Die beanstandete Meldung beeinträchtige das Persönlichkeitsrecht der Kläger einschließlich ihres Resozialisierungsinteresses unter den besonderen Umständen des Streitfalls aber nicht in erheblicher Weise. Der Beitrag sei insbesondere nicht geeignet, die Kläger "ewig an den Pranger" zu stellen oder in einer Weise "an das Licht der Öffentlichkeit zu zerren", die sie als Straftäter (wieder) neu stigmatisieren könnte. Vielmehr ernthalte die Meldung sachlich abgefasste, wahrheitsgemäße Aussagen über ein Kapitalverbrechen an einem bekannten Schauspieler, das erhebliches öffentliches Aufsehen erregt hatte. Angesichts der Schwere des Verbrechens, der Bekanntheit des Opfers, des erheblichen Aufsehens in der Öffentlicht und des Umstands, dass sich die Verurteilten zudem bis weit über das Jahr 2000 hinaus um die Aufhebung ihrer Verurteilung bemüht hatten, war die Mitteilung zum Zeitpunkt ihrer Einstellung in den Internetauftritt der Beklagten zulässig. Hieran hat sich trotz der zwischenzeitlich erfolgten Entlassung der Kläger aus der Haft nichts geändert. Der inkriminierten Meldung kam überdies nur eine geringe Breitenwirkung zu. Sie war nur auf den für Altmeldungen vorgesehenen Seiten des Internetauftritts der Beklagten zugänglich, ausdrücklich als Altmeldung gekennzeichnet und nur durch eine gezielte Suche auffindbar.

Ein Interesse der Öffentlichkeit besteht auch an der Recherche vergangener, zeitgeschichtlicher Ergeignisse

Zu berücksichtigen sei darüber hinaus, dass ein anerkennenswertes Interesse der Öffentlichkeit nicht nur an der Information über das aktuelle Zeitgeschehen, sondern auch an der Möglichkeit bestehe, vergangene zeitgeschichtliche Ereignisse zu recherchieren. Das von den Klägern begehrte Verbot würde den freien Informations- und Kommunikationsprozess einschnüren und hätte abschreckende Auswirkungen auf den Gebrauch der Meinungs- und Medienfreiheit.

Das Verbot der Verbreitung im Veröffentlichungszeitpunkt zulässiger Altmeldungen kann eine unzulässige Einschränkung der Meinungs- und Medienfreiheit darstellen

Würde auch das weitere Bereithalten von - ausdrücklich gekennzeichneten - und im Zeitpunkt der Einstellung zulässiger Altmeldungen in im Internet (hier: in einem Online-Archiv) nach Ablauf einer gewissen Zeit oder nach Veränderung der zugrunde liegenden Umstände ohne weiteres unzulässig und wären die Verfasser (hier: das beklagte Deutschlandradio) verpflichtet, von sich aus sämtliche archivierten Beiträge immer wieder auf ihre Rechtmäßigkeit zu kontrollieren, werde - so der BGH - die Meinungs- und Medienfreiheit in unzulässiger Weise eingeschränkt. Aufgrund des mit einer derartigen Kontrolle verbundenen personellen und zeitlichen Aufwands bestünde zudem die Gefahr, dass Medien wie die Beklagte entweder ganz von einer der Öffentlichkeit zugänglichen Archivierung absehen oder bereits bei der erstmaligen Sendung die Umstände ausklammern, die etwa eine Mitschrift der Sendung später rechtswidrig werden lassen könnten, an deren Mitteilung die Öffentlichkeit aber im Zeitpunkt der erstmaligen Berichterstattung grundsätzlich ein schützenswertes Interesse hat.

(tg) - Quelle: PM Nr. 255/2009 vom 15.12.2009


Online seit: 16.12.2009
Kurz-Link zum Artikel: http://miur.de/2093
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