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BVerfG, Beschluss vom 19.12.2007 - 1 BvR 620/07
Ton- und Bildaufnahmen aus dem Gerichtsaal - Zur Berücksichtigung der Rundfunkfreiheit des Art. 5 Abs. 1 Satz 2 GG beim Erlass sitzungspolizeilicher Anordnungen über Ton- und Bildaufnahmen unmittelbar vor und nach einer mündlichen Verhandlung sowie in Sitzungspausen.
GG Art. 5 Abs. 1 Satz 1, Satz 2, Art. 2 Abs. 1, Art. 20 Abs. 3; GVG §§ 169, 176, StPO § 148 Abs. 1
Leitsätze:*1. Die Freiheit der Berichterstattung durch Rundfunk (Art. 5 Abs. 1 Satz 2 GG) schützt die
Beschaffung der Informationen und die Erstellung der Programminhalte bis hin zu ihrer Verbreitung
(vgl. BVerfGE 91, 125; st. Rspr). Soweit die Medien an der Zugänglichkeit einer für jedermann
geöffneten Informationsquelle teilhaben, wird der Zugang allerdings für Medien gleichermaßen
wie für die Bürger allgemein durch die Informationsfreiheit des Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG geschützt.
Die Nutzung rundfunkspezifischer Mittel der Informationsaufnahme, insbesondere von Ton- und Bewegtbildaufnahmen,
wird demgegenüber von der insoweit spezielleren Rundfunkfreiheit des Art. 5 Abs. 1 Satz 2 GG erfasst
(vgl. BVerfGE 103, 44). Zu deren Schutzbereich gehört das Recht, für die Berichterstattung die
dem Rundfunk eigenen Darstellungsmittel zu nutzen, darunter Töne und Bilder, mit deren Hilfe
insbesondere der Eindruck der Authentizität und des Miterlebens vermittelt werden kann
(vgl. BVerfGE 103, 44). Dies gilt auch für Zwecke der Berichterstattung aus Anlass einer
öffentlichen Gerichtsverhandlung.
Zum Schutzbereich der Rundfunkfreiheit gehört ein Recht auf Eröffnung einer Informationsquelle
allerdings ebenso wenig wie zu dem der Informationsfreiheit.
2. Es entspricht grundsätzlich dem im Rechtsstaats- und Demokratieprinzip enthaltenen objektiv-rechtlichen
Auftrag zur Sicherung der Möglichkeit der Wahrnehmung und gegebenenfalls Kontrolle von
Gerichtsverfahren durch die Öffentlichkeit, die Medien darüber berichten zu lassen und dem Fernsehen
audiovisuelle Aufnahmen zu ermöglichen, soweit dies nicht durch eine besondere Regelung allgemein
oder wegen gegenläufiger Interessen im konkreten Fall ausgeschlossen ist. Unter den gegenwärtigen
Bedingungen öffentlicher Meinungsbildung vermag die in § 169 Satz 1 GVG vorgesehene Saalöffentlichkeit
der Verhandlung das öffentliche Interesse an Medienberichterstattung für sich allein nicht stets
in hinreichendem Umfang zu sichern. Die öffentliche Kontrolle von Gerichtsverhandlungen wird durch
die Anwesenheit der Medien und deren Berichterstattung grundsätzlich gefördert (vgl. BGH, Beschluss
vom 10.01.2006 - Az. 1 StR 527/05 -, NJW 2006, S. 1220).
Zur Art und Intensität öffentlicher Wahrnehmung trägt die Veröffentlichung audiovisueller Darstellungen bei.
Die mündliche Verhandlung selbst ist nach § 169 Satz 2 GVG in verfassungsgemäßer Weise den Ton- und
Bildaufnahmen verschlossen (vgl. BVerfGE 103, 44); insoweit erfolgt die öffentliche Kontrolle von
Gerichtsverhandlungen durch die Saalöffentlichkeit und die Berichterstattung darüber.
3. Das Gerichtsverfassungsrecht schließt die Berichterstattung durch Rundfunk in dem zwar zur Sitzung,
aber nicht zur Verhandlung im Sinne des Gerichtsverfassungsrechts gehörenden Zeitraum vor Beginn und nach
Schluss einer mündlichen Verhandlung sowie in den Verhandlungspausen nicht aus (vgl. BGHSt 23, 123). Es
können aber Beschränkungen durch sitzungspolizeiliche Anordnung des Vorsitzenden gemäß § 176 GVG vorgesehen
werden (vgl. BVerfGE 91, 125). Hierbei liegt die Gestaltung der gerichtlichen Verhandlung und der
sitzungspolizeilichen Anordnungen, soweit das Verfahrensrecht keine gegenläufigen Vorkehrungen trifft, im
Ermessen des Vorsitzenden. Dieses Ermessen hat er unter Beachtung der Bedeutung der Rundfunkberichterstattung
für die Gewährleistung öffentlicher Wahrnehmung und Kontrolle von Gerichtsverhandlungen sowie der einer Berichterstattung
entgegenstehenden Interessen auszuüben und dabei sicherzustellen, dass der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit gewahrt ist.
4. Bei der Gewichtung des Informationsinteresses der Öffentlichkeit ist der jeweilige Gegenstand des gerichtlichen
Verfahrens bedeutsam (etwa: im Strafverfahren die Schwere der zur Anklage stehenden Straftat, die öffentliche
Aufmerksamkeit, die beteiligten Personen, die Furcht vor einer Wiederholung, Mitgefühl mit den Opfern oder deren
Angehörigen, Abhebung von "gewöhnlicher" Kriminalität u.ä.).
5. Zu berücksichtigen bei der Ermessensentscheidung und der, dieser zu Grunde liegenden Abwägung, sind darüber hinaus
stets die schutzwürdigen Interessen (Dritter), die einer Aufnahme und Verbreitung von Ton- und Bildaufnahmen
entgegenstehen können. Dazu gehören insbesondere der Schutz des allgemeinen Persönlichkeitsrechts der
Beteiligten, namentlich der Angeklagten und der Zeugen, aber auch der Anspruch der Beteiligten
auf ein faires Verfahren (Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 20 Abs. 3 GG) sowie die Funktionstüchtigkeit
der Rechtspflege, insbesondere die ungestörte Wahrheits- und Rechtsfindung (vgl. BVerfGE 103, 44) sowie
das Recht des Angeklagten auf ungehinderten Verkehr mit seinem Verteidiger (§ 148 Abs. 1 StPO).
Zudem sind mögliche Prangerwirkungen oder Beeinträchtigungen der Unschuldsvermutung, Belange einer etwaigen späteren
Resozialisierung zu berücksichtigen.
6. Die für die einwilligungslose Verbreitung von Personenbildnissen durch die Massenmedien entwickelten
verfassungsrechtlichen Maßstäbe (vgl. dazu BVerfGE 35, 202; 101, 361) sind auch zu beachten, wenn
über die Anfertigung bestimmter Personenbildnisse am Rande der Hauptverhandlung mit dem Ziel der
Verbreitung in den Massenmedien zu entscheiden ist. Gerichtsverhandlungen, auf die ein besonderes
Informationsinteresse der Öffentlichkeit gerichtet ist, sind Ereignisse aus dem Bereich der Zeitgeschichte;
der Schutz des Persönlichkeitsrechts der daran Beteiligten fordert daher kein völliges Filmverbot
(vgl. BVerfGE 87, 334; BVerfGE 91, 125).
7. Gibt es Anhaltspunkte dafür, dass Fernsehaufnahmen das Persönlichkeitsrecht oder die
zu klären, ob die befürchtete Beeinträchtigung nicht bereits mit Auflagen abgewehrt werden konnte, etwa
durch eine Anonymisierung des Erscheinungsbildes betroffener Personen oder eine Beschränkung der
Aufzeichnung des Einzugs des Gerichts auf Gesamtansichten unter Verzicht auf Großaufnahmen von
Einzelgesichtern.
Bearbeiter: Ass. iur. Thomas Gramespacher
Online seit: 03.02.2008
Kurz-Link zum Artikel: http://miur.de/1504
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