Rechtsprechung
BGH, Urteil vom 5.10.2006 - Az. I ZB 73/05
Tastmarke - Ein über den Tastsinn wahrnehmbares Zeichen kann eine Marke sein.
MarkenG § 3 Abs. 1, § 8 Abs. 1; MRRL Art. 2
Leitsätze:*1. Ein über den Tastsinn wahrnehmbares Zeichen kann eine Marke sein.
2. Als Marke können Zeichen geschützt werden, die geeignet sind, Waren oder Dienstleistungen eines Unternehmens von denjenigen
anderer Unternehmen zu unterscheiden, § 3 Abs. 1 MarkenG. Die Hauptfunktion der Marke besteht darin, dem Verbraucher oder
dem Endabnehmer die Ursprungsidentität der durch die Marke gekennzeichneten Ware oder Dienstleistung zu garantieren,
indem sie ihm ermöglicht, diese Ware oder Dienstleistung von Waren oder Dienstleistungen anderer Herkunft zu unterscheiden (vgl.
EuGH, Urt. v. 12.12.2002 - C-273/00 - Sieckmann).
3. Die Funktion eines Unterscheidungszeichens erfordert, dass der als Marke beanspruchte Gegenstand von Dritten wahrgenommen
werden kann, also auf deren Sinnesorgane einwirkt. Die Aufzählung in Art. 2 MRRL erwähnt zwar nur Zeichen, die visuell
wahrnehmbar sind. Dadurch sind jedoch Zeichen, die wie die in § 3 Abs. 1 MarkenG erwähnten Hörzeichen oder wie Gerüche über
andere Sinnesorgane wahrnehmbar sind, nicht als Marken ausgeschlossen (vgl. EuGH GRUR 2003, 145 Tz. 44 - Sieckmann;
EuGH, Urt. v. 27.11.2003 - C-283/01 - Shield Mark/Kist).
Es ist erforderlich, dass die allgemeinen Voraussetzungen der Markenfähigkeit wie insbesondere der Grundsatz der Selbständigkeit der
Marke von dem Produkt erfüllt sind (vgl. BGHZ 140, 193, 197 - Farbmarke gelb/schwarz; BGH, Beschl. v. 20.11.2003 - I ZB 15/98, GRUR 2004,
502, 503 = WRP 2004, 752 - Gabelstapler II).
4. Ein Zeichen darf, um die Anforderungen an die abstrakte Unterscheidungseignung nach § 3 Abs. 1 MarkenG zu erfüllen, kein funktionell
notwendiger Bestandteil der Ware sein, sondern muss über deren Grundform hinausreichende Elemente aufweisen, die zwar nicht
physisch, aber doch gedanklich von der Ware abstrahierbar sind und die Identifizierungsfunktion der Marke erfüllen können
(BGH GRUR 2004, 502, 503 - Gabelstapler II, m.w.N.). Diese Anforderungen können Tastmarken wie dreidimensionale Formmarken
grundsätzlich erfüllen, weil sich Elemente oder Eigenschaften einer Gestaltung, deren Wahrnehmung über den Tastsinn als Marke
beansprucht werden soll, gedanklich von der Ware selbst abstrahieren lassen.
5. Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaft verlangen die mit den Erfordernissen der Bestimmtheit
und der grafischen Darstellbarkeit i.S. von Art. 2 MRRL und § 8 Abs. 1 MarkenG verfolgten Zwecke nicht notwendig die
grafische Wiedergabe der Marke selbst. Es kann unter Umständen genügen, die Marke mit hinreichend eindeutigen Symbolen,
insbesondere mit Hilfe von Figuren, Linien oder Schriftzeichen, zu umschreiben, die das Zeichen so wiedergeben, dass es
genau identifiziert werden kann. Das setzt voraus, dass die (mittelbare) grafische Darstellung klar, eindeutig, in
sich abgeschlossen, leicht zugänglich, verständlich, dauerhaft und objektiv ist (EuGH GRUR 2003, 145 Tz. 52-55 - Sieckmann;
EuGH GRUR 2004, 54 Tz. 55 - Shield Mark/Kist). Diese vom Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaft bei Hör- und Riechmarken aufgestellten Anforderungen gelten grundsätzlich auch für - gleichfalls visuell nicht wahrnehmbare - Tastmarken.
6. Den Anforderungen der grafischen Darstellbarkeit der Marke kann grundsätzlich dadurch genügt werden, dass der einen bestimmten
Wahrnehmungsvorgang auslösende Gegenstand objektiv hinreichend genau und bestimmt bezeichnet wird.
7. Bei einem Zeichen, das über den Tastsinn vermittelt werden soll, bedarf es dazu der hinreichend bestimmten Angabe der
maßgeblichen Eigenschaften des Gegenstandes, durch dessen Berühren die Sinneswahrnehmungen ausgelöst werden, die sich als
Hinweis auf die Unterscheidung von Waren oder Dienstleistungen aus einem bestimmten Unternehmen eignen sollen. Die mit
dem Erfordernis der grafischen Darstellbarkeit verfolgten Zwecke gebieten es dagegen nicht, dass (auch) die Sinnesempfindungen
als solche, die über den Tastsinn ausgelöst werden, bezeichnet werden.
MIR 2006, Dok. 271
Bearbeiter: Rechtsanwalt Thomas Ch. Gramespacher
Online seit: 15.12.2006
Kurz-Link zum Artikel: http://miur.de/489
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