Rechtsprechung
BVerfG, Beschluss vom 22.08.2006 - Az. 2 BvR 1345/03
IMSI-Catcher - Die Datenerhebung nach § 100i StPO greift nicht in den Schutzbereich der Telekommunikationsfreiheit ein. Sie steht nicht im Zusammenhang mit einem Kommunikationsvorgang und betrifft auch keinen Kommunikationsinhalt im Sinne des Art. 10 Abs. 1 GG.
GG Art. 10; Art. 2 Abs. 1; Art. 1 Abs. 1; Art. 20 Abs. 1; StPO § 100i; § 98b Abs. 4 S. 1; § 163 d Abs. 5; TKG § 88; § 3 Nr. 22; § 113 Abs. 1; § 111
Leitsätze:*1. Art. 10 GG schützt die private Fernkommunikation. Brief-, Post- und Fernmeldegeheimnis sind wesentlicher Bestandteil des
Schutzes der Privatsphäre; sie schützen vor ungewollter Informationserhebung und gewährleisten eine Privatheit auf Distanz.
Art. 10 Abs. 1 GG soll einen Ausgleich für die technisch bedingte Einbuße an Privatheit schaffen und will den Gefahren
begegnen, die sich aus dem Übermittlungsvorgang einschließlich der Einschaltung eines Dritten ergeben
(vgl.BVerfGE 85, 386 (396); 106, 28 (36); 107, 299 (313)). Das Fernmeldegeheimnis knüpft an das Kommunikationsmedium an.
2. Die Datenerhebung nach § 100i StPO greift nicht in den Schutzbereich der Telekommunikationsfreiheit ein. Sie
steht nicht im Zusammenhang mit einem Kommunikationsvorgang und betrifft auch keinen Kommunikationsinhalt im Sinne des Art. 10 Abs. 1 GG.
3. Die Feststellung einer Geräte- oder Kartennummer im Sinne des § 100 i Abs. 1 Nr. 1 StPO eines im Bereich einer simulierten
Funkzelle befindlichen Mobiltelefons durch den Einsatz eines "IMSI-Catchers" ist unabhängig von einem tatsächlich stattfindenden
oder zumindest versuchten Kommunikationsvorgang zwischen Menschen. Beim Einsatz des "IMSI-Catchers" "kommunizieren" ausschließlich
technische Geräte miteinander. Es fehlt an einem menschlich veranlassten Informationsaustausch, der sich auf Kommunikationsinhalte
bezieht. Die erfassten Daten fallen nicht anlässlich eines Kommunikationsvorgangs an, sondern im Bereitschaftszustand eines
Mobiltelefons, der erst technische Voraussetzung eines Kommunikationsvorgangs ist.
4. Art. 10 Abs. 1 GG knüpft personal an den Grundrechtsträger und dessen Schutzbedürftigkeit aufgrund der Einschaltung Dritter in den
Kommunikationsvorgang an und folgt nicht dem rein technischen Telekommunikationsbegriff des Telekommunikationsgesetzes (vgl. § 3 Nr. 22 TKG.
Die Erfassung der IMSI und der IMEI mag somit zwar die Bereitschaft zur Nutzung eines Mobiltelefons beeinträchtigen, realisiert
aber nicht die spezifischen Gefahren für die Privatheit der Kommunikation, die in der Nutzung des Telekommunikationsmediums begründet liegen.
5. Beim Einsatz des "IMSI-Catchers" werden die IMSI- und IMEI-Daten nicht innerhalb des Herrschaftsbereichs eines
Telekommunikationsunternehmens, sondern ohne dessen Mitwirkung durch die Strafverfolgungsbehörden selbst und unmittelbar erhoben.
Nach dem Grundverständnis des Art. 10 Abs. 1 GG, der insbesondere die erhöhte Verletzlichkeit und Überwachungsanfälligkeit des
Übertragungsvorgangs durch die Einschaltung Dritter schützt, unterfallen die hierbei erhobenen Daten nicht dem Telekommunikationsgeheimnis.
6. Angesichts der geringen Eingriffsintensität ist es nicht unverhältnismäßig, auf die Benachrichtigung mitbetroffener Dritter zu verzichten.
Bei der Durchführung von Maßnahmen nach § 100i StPO haben die Ermittlungsbehörden darauf Bedacht zu nehmen, dass die
Grundrechtspositionen der unbeteiligten Dritten nicht über das unbedingt notwendige Maß hinaus berührt werden.
7. Soweit durch den Einsatz des "IMSI-Catchers" für einige Sekunden die Herstellung einer Telekommunikationsverbindung für ein
einzelnes Mobiltelefon nicht möglich ist, handelt es sich um eine Verhinderung von Telekommunikation, die nicht unter Art. 10
Abs. 1 GG fällt. Das Unterbinden von Telekommunikation ist daher am Grundrecht der allgemeinen Handlungsfreiheit zu messen,
das Betätigungen jedweder Art schützt.
MIR 2006, Dok. 262
Bearbeiter: Rechtsanwalt Thomas Ch. Gramespacher
Online seit: 10.12.2006
Kurz-Link zum Artikel: http://miur.de/480
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