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Rechtsprechung // Verfahrensrecht



BGH, Beschluss vom 18.11.2021 - I ZR 125/21

E-Mail-Lesebestätigung - Nutzt ein Rechtsanwalt im Kanzleibetrieb die E-Mail-Korrespondenz, muss er die Kenntnisnahme von Nachrichten (hier betreffend den Ablauf der Revisionsfrist) sicherstellen

ZPO §§ 85 Abs. 2, 51 Abs. 2, 233, 236 Abs. 2 Satz 1

Leitsätze:*

1. Nach § 233 ZPO ist Wiedereinsetzung in den vorigen Stand unter anderem zu gewähren, wenn eine Partei ohne ihr Verschulden verhindert war, die Revisionsfrist (§ 548 ZPO) einzuhalten. Wiedereinsetzung in den vorigen Stand kann nicht gewährt werden, wenn nach den seitens der Partei vorgetragenen und glaubhaft gemachten Tatsachen (§ 236 Abs. 2 Satz 1 ZPO) zumindest die Möglichkeit offenbleibt, dass die Fristversäumnis von der Partei beziehungsweise ihrem Prozessbevollmächtigten verschuldet war.

2. Sowohl im Parteiprozess als auch im hier in Rede stehenden Anwaltsprozess kann die Fristversäumung auf einem Verschulden der Partei beruhen, wobei gemäß § 51 Abs. 2 ZPO das Verschulden ihres gesetzlichen Vertreters dem Parteiverschulden gleichgestellt ist

3. Eine auf den Willen und die Überzeugung betreffend den Versand einer E-Mail beschränkte eidestattliche Versicherung genügt ohne einen weiteren Beleg (beispielsweise Screenshot einer Sendebestätigung) nicht zur Darlegung und Glaubhaftmachung des tatsächlichen Versands (hier: E-Mail Auftrag zur Einlegung einer Revision durch einen Prokuristen an die Prozessbevollmächtigten).

4. Ein Rechtsanwalt genügt seiner Pflicht zur wirksamen Ausgangskontrolle bei der Übermittlung eines fristgebundenen Schriftsatzes per Telefax nur dann, wenn er anhand des Sendeprotokolls überprüft oder durch eine zuverlässige Kanzleikraft überprüfen lässt, ob die Übermittlung vollständig und an den richtigen Empfänger erfolgt ist, weil mögliche Fehlerquellen nur so mit einem hohen Maß an Zuverlässigkeit ausgeschlossen werden können. Gleiches gilt für die Übersendung einer E-Mail (hier: Erinnerung an den Ablauf der Revisionsfrist). Auch insoweit besteht die Gefahr, dass die E-Mail-Nachricht den Empfänger wegen einer technischen Störung bei der Übermittlung nicht erreicht. Um sicherzustellen, dass eine E-Mail den Adressaten erreicht hat, hat der Versender über die Optionsverwaltung eines E-Mailprogramms die Möglichkeit, eine Lesebestätigung anzufordern (st. Rspr., vgl. BGH, Beschluss vom 17.07.2013 - I ZR 64/13). Nichts anderes gilt, wenn ein Rechtsanwalt die Partei mittels einer E-Mail auf die am selben Tag ablaufende Rechtsmittelfrist hinweisen und sie zur Einlegung des Rechtsmittels motivieren will. Nutzt ein Rechtsanwalt im Kanzleibetrieb die E-Mail-Korrespondenz, muss er die Kenntnisnahme empfangener Nachrichten durch die Anforderung einer Lesebestätigung sicherstellen.

MIR 2022, Dok. 013


Anmerkung:
In Ansehung der (anscheinenden) Selbstverständlichkeit, mit der der BGH hier das Fax-Sendeprotokoll und E-Mail-Lesebestätigungen (technisch) gleichsetzt, mag man hoffen, dass dies so nicht wörtlich zu nehmen ist.

Dass der Senat hier die E-Mail-Lesebestätigung (weiterhin) als "Mittel der Wahl" zum Übermittlungs- bzw. Empfangsnachweis verstanden und/oder erhoben wissen will, ist - hoffentlich - fernliegend. Vielmehr ist mit Optimismus anzunehmen, dass der BGH dabei nur ein entsprechendes und geeignetes Mittel der Glaubhaftmachung meinen kann und dass dies auch in der Rezeption der Entscheidung in den Instanzen und der Literatur so aufgefasst wird. So heißt es auch im amtlichen Leitsatz der in Bezug genommenen früheren Senatsrechtsprechung: "Ein Rechtsanwalt, der einem anderen Rechtsanwalt einen Rechtsmittelauftrag per E-Mail zuleitet, darf nicht allein wegen der Absendung der E-Mail auf deren ordnungsgemäßen Zugang beim Adressaten vertrauen. Er muss vielmehr organisatorische Maßnahmen ergreifen, die ihm eine Kontrolle des ordnungsgemäßen Zugangs ermöglichen" (amtl. LS zu BGH, Beschluss vom 17.07.2013 - I ZR 64/13).

Eine "Beschränkung" und/oder Eingrenzung auf E-Mail-Lesebstätigungen liegt hierin nicht. Lange nicht (mehr) jedes E-Mail-Programm sieht Lesebestätigungen vor und diese sind zudem grundsätzlich vollkommen in die Willkür des Empfängers gestellt. Lesebestätigungen bei E-Mails erscheinen doch vielmehr als Relikt oder Eigenart einer "öffentlichen EDV-Landschaft", die eben auf ein leidlich verbreitetes System setzt (aka in diesem festgefahren ist). Ebenfalls existieren bei E-Mails grundsätzlich auch keine Sendeprotokolle.

Dementsprechend kann der ordnungsgemäße Versand und auch der Empfang von E-Mails bzw. dessen Darlegung - bei grundsätzlich lebensnaher Vermutung einer ordnungsgemäßen Übermittlung mangels technischer Fehlermeldungen (Stichwort: "Mail delivery failed") - auch in "üblicher Weise" auf anderen Wegen erfolgen. Ohnehin dokumentierte eine Lesebestätigung zwar möglicherweise die Übermittlung, keinesfalls aber die tatsächliche Kenntnisnahme der fraglichen Nachricht; ein (Fax-)Sendeprotokoll ist ohnehin nur auf die Übermittlung und damit allenfalls die Kenntnisnahmemöglichkeit beim Empfänger gerichtet.

Selbstverständlich ist in der Praxis stets anzuraten, sich der Kenntnisnahme von derart relevanten E-Mail-Nachrichten persönlich und dokumentiert zu versichern. Die hier entschiedene Sache hat den BGH wohl auch nur deswegen beschäftigt, weil sich mindestens ein Beteiligter nicht eingestehen wollte, es "vermasselt" zu haben. Das ist irgendwie nachvollziehbar. Aber Notfristen sind nunmal: Notfristen!
Rechtsanwalt Thomas Ch. Gramespacher, Bonn

[Update vom 04.04.2022]
Der Bundesgerichtshof hat der Entscheidung nachträglich folgenden amtlichen Leitsatz hinzugefügt, dessen Aussage bereits in Leitsatz 4 der Redaktion enthalten ist:
Ein Rechtsanwalt, der die Partei mittels einer E-Mail auf die am selben Tag ablaufende Rechtsmittelfrist hinweisen und sie zur Einlegung des Rechtsmittels motivieren will, muss durch die Anforderung einer Lesebestätigung sicherstellen, dass die Nachricht vom Empfänger zur Kenntnis genommen worden ist.
Download: Entscheidungsvolltext PDF

Bearbeiter: Rechtsanwalt Thomas Ch. Gramespacher
Online seit: 11.02.2022
Kurz-Link zum Artikel: http://miur.de/3156

*Redaktionell. Amtliche Leit- und Orientierungssätze werden in einer "Anm. der Redaktion" benannt.

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