Rechtsprechung
OLG Dresden, Urteil vom 3.08.2006 - Az. 4 U 536/06
Niemand kann daran gehindert werden, angebliche Missstände denjenigen Stellen anzuzeigen, die dazu berufen sind, einem entsprechenden Verdacht nachzugehen und gegebenenfalls Maßnahmen gegen solche Missstände zu ergreifen. Das gilt erst recht für Strafanzeigen und grundsätzlich auch soweit hierbei ehrveletzende oder rufschädigende Äußerungen getätigt werden.
Leitsätze:
GG Art. 5 Abs. 1
1. Niemand kann daran gehindert werden, angebliche Missstände denjenigen Stellen anzuzeigen, die dazu berufen sind, einem
entsprechenden Verdacht nachzugehen und gegebenenfalls Maßnahmen gegen solche Missstände zu ergreifen. Das gilt erst recht
für Strafanzeigen und grundsätzlich auch soweit hierbei ehrveletzende oder rufschädigende Äußerungen getätigt werden.
2. Wer berufenen Stellen (insb. der Staatsanwaltschaft oder der Polizei) einen Verdacht mitteilt, dass ein anderer eine
strafbare Handlung begangen habe, ist meistens genötigt, mit seinem Vorbringen die Ehre des anderen oder auch eines Dritten
zu verletzen. Das kann ihm nicht verwehrt werden, denn mit der Erstattung einer Anzeige oder Verdachtsmitteilung übt er ein
jedem Staatsbürger zustehendes Recht aus und dient der Aufrechterhaltung der Rechtsordnung.
3. Die Grenzen findet dieses Recht jedoch dann, wenn der der Beschwerde zugrunde liegende Vorwurf etwa leichtfertig oder
vorsätzlich unrichtig oder zum Zweck diffamierender Schmähkritik erhoben wird und aus Sicht eines objektiven Dritten haltlos und abwegig erscheint. Gleichwohl lässt sich hierauf ein Unterlassungsgebot im Einzelfall nicht erstrecken, soweit der im
Kontext als bloße Schlussfolgerung und bloßer Verdacht für den verständigen Leser kenntlich gemachte Vorwurf ausschließlich
an zur Aufklärung berufene Stellen gerichtet ist. Denn im Rahmen privilegierter Äußerungen dürfen die Barrieren nicht so hoch
angesetzt werden, dass von ihnen ein Lähmungseffekt ausgehen kann.
4. Bewußt unwahre, aber auch ohne weiteres erkennbar unwahre Tatsachenbehauptungen können durch das Recht auf freie
Meinungsäußerung nicht gedeckt sein. Denn an der Aufrechterhaltung und Weiterverbreitung herabsetzender Tatsachenbehauptungen, die als
unwahr erkannt werden, kann auch unter dem Gesichtspunkt der Meinungsfreiheit kein schützenswertes Interesse bestehen.
5. Erst, wenn bei einer Meiungsäußerung nicht mehr die - wenn auch polemische - Auseinandersetzung in der Sache im Vordergrund steht,
sondern die Person des Betroffenen, die verletzt, beschädigt oder geschmäht werden soll (Schmähkritik), muss das Grundrecht
der Meinungsfreiheit hinter dem Schutz des Persönlichkeitsrechts des Betroffenen zurücktreten.
6. Eine Rechtfertigung nach § 192 StGB (Wahrnehmung berechtigter Interessen) oder Art. 5 Abs. 1 GG (Meinungs- und Pressefreiheit) kommt
für ehrverletzende und als unwahr erwiesene oder gar bewusst unwahre Tatsachenbehauptungen grundsätzlich nicht in Betracht.
7. Bei der Ermittlung so genannter verdeckter Aussagen ist zu unterscheiden zwischen der Mitteilung einzelner Fakten, aus denen der Leser
eigene Schlüsse ziehen kann und soll, und der eigentlichen "verdeckten" Aussage, mit der der Autor durch das Zusammenspiel offener Äußerungen
eine zusätzliche Sachaussage macht bzw. dem Leser als unabweisliche Schlussfolgerung nahe legt. Unter dem Blickwinkel des Art. 5 Abs. 1 GG
ist nur im zweiten Fall die "verdeckte" Aussage einer "offenen" Behauptung gleichzustellen.
MIR 2006, Dok. 126
Bearbeiter: Rechtsanwalt Thomas Ch. Gramespacher
Online seit: 14.08.2006
Kurz-Link zum Artikel: http://miur.de/341
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