Rechtsprechung
KG Berlin, Urteil vom 6.11.2006 - Az. 10 U 282/05
Orte der Abgeschiedenheit - Zur berechtigten Privatheitserwartung als maßgebliches Kriterium für die Rechtmäßigkeit von Bildnisveröffentlichungen und zur Zulässigkeit der Unterlassungsklage.
BGB § 823 Abs. 1, Abs. 2, § 1004 Abs. 1 S. 2; KUG § 22, § 23 Abs. 1 Nr. 1; GG Art. 1 Abs. 1, Art. 2 Abs. 1
Leitsätze:*1. Der Schutz der Privatsphäre vor öffentlicher Kenntnisnahme entfällt, wenn sich jemand selbst damit einverstanden
zeigt, dass bestimmte, gewöhnlich als privat geltende Angelegenheiten öffentlich gemacht werden, etwa indem er Exclusivverträge
über die Berichterstattung aus seiner Privatsphäre abschließt. Der verfassungsrechtliche Privatsphärenschutz aus Art. 2 Abs. 1
in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG ist nicht im Interesse einer Kommerzialisierung der eigenen Person gewährleistet.
2. Dem Bereich der Zeitgeschichte im Sinne von § 23 Abs. 1 Nr. 1 KUG sind auch Bildnisse von Personen zuzuordnen, die das öffentliche
Interesse nicht nur punktuell durch ein bestimmtes zeitgeschichtliches Ereignis auf sich gezogen haben, sondern unabhängig von
einzelnen Ereignissen aufgrund ihres Status und ihrer Bedeutung allgemeine öffentliche Aufmerksamkeit finden. Das allgemeine Persönlichkeitsrecht
verlangt keine Beschränkung der einwilligungsfreien Veröffentlichung von Bildern, die Personen von zeitgeschichtlicher Bedeutung
bei der Ausübung der Funktion zeigen, die sie in der Gesellschaft wahrnehmen.
3. Auch rein unterhaltende Presseveröffentlichungen sind von der Freiheit der Meinungsäußerung bzw. von der Pressefreiheit erfasst.
Einerseits ergibt sich etwas anderes nicht aus der Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte -
EGMR vom 24. Juni 2004 (NJW 2004, 2647). Andererseits bekräftigt auch das Bundesverfassungsgericht in seinem Urteil vom 21.08.2006
(MIR Dok. 175-2006) nochmals, dass
der Grundrechtsschutz des Art. 5 Abs. 1 GG nicht schon deshalb entfällt, weil eine Medienberichterstattung allein unterhaltenden
Charakter hat.
4. Der Schutz der Privatsphäre, der wie das Recht am eigenen Bild im allgemeinen Persönlichkeitsrecht wurzelt, ist thematisch
und räumlich bestimmt. Er umfasst zum einen Angelegenheiten, die wegen ihres Informationsinhalts typischerweise als privat eingestuft
werden, weil ihre öffentliche Erörterung oder Zurschaustellung als unschicklich gilt, das Bekanntwerden als peinlich empfunden
wird oder nachhaltige Reaktionen der Umwelt auslöst, wie es etwa bei Auseinandersetzungen mit sich selbst in Tagebüchern, bei
vertraulicher Kommunikation unter Eheleuten, im Bereich der Sexualität, bei sozial abweichendem Verhalten oder bei Krankheiten der
Fall ist. Der Schutz der Privatsphäre erstreckt sich auf einen räumlichen Bereich, in dem der Einzelne zu sich kommen, sich
entspannen oder auch gehen lassen kann, mithin auf einen Raum, in der der Einzelne die Möglichkeit hat, frei von öffentlicher
Beobachtung und der damit von ihr erzwungenen Selbstkontrolle zu sein. Ein derartiges Schutzbedürfnis besteht auch bei Personen,
die aufgrund ihres Ranges oder Ansehens, ihres Amtes oder Einflusses, ihrer Fähigkeiten oder Taten besondere öffentliche Beachtung finden.
Wer, ob gewollt oder ungewollt, zur Person des öffentlichen Lebens geworden ist, verliert damit nicht sein Anrecht auf eine Privatsphäre,
die den Blicken der Öffentlichkeit entzogen bleibt. Der Rückzugsbereich darf dabei nicht auf den häuslichen Bereich, der
anerkanntermaßen eine solche geschützte Sphäre darstellt, begrenzt werden.
5. Die notwendige Erholung von einer durch Funktionszwänge und Medienpräsenz geprägten Öffentlichkeit ist vielfach nur in der
Abgeschiedenheit einer natürlichen Umgebung, etwa an einem Ferienort, zu gewinnen. Ausschlaggebend ist, ob der Einzelne eine Situation
vorfindet oder schafft, in der er begründetermaßen und somit auch für Dritte erkennbar davon ausgehen darf, den Blicken der Öffentlichkeit
nicht ausgesetzt zu sein.
6. Das Kriterium der berechtigten Privatheitserwartung stellt einen geeigneten Maßstab im Rahmen der Abwägung zwischen dem allgemeinen
Persönlichkeitsrecht des Betroffenen und der Pressefreiheit dar. Soweit das Bundesverfassungsgericht in der Entscheidung vom 15.
Dezember 1999 (BVerfGE 101, 361 = NJW 2000, 1021) ausgeführt hat, dass eine solche berechtigte Privatheitserwartung eine örtliche
Abgeschiedenheit voraussetzt, weswegen die schützenswerte Privatsphäre, die auch absoluten Personen der Zeitgeschichte zusteht, auf
solche Orte beschränkt ist, erscheint dies allerdings als zu eng. Die Ansicht des Bundesverfassungsgerichts ist vom EGMR auch
beanstandet und die hierauf beruhende Rechtsprechung in der Entscheidung vom 24. Juni 2004 (NJW 2004, 2647 - "Caroline von Hannover")
als ein Verstoß gegen Art. 8 EMRK angesehen worden.
7. Der Rahmen der berechtigten Privatheitserwartung ist über die Orte der Abgeschiedenheit hinaus auszudehnen (Berücksichtigung
der Rechtsprechung der EGMR - Entscheidung vom 24. Juni 2004 (= NJW 2004, 2647 - "Caroline von Hannover") und Abkehr von der Rechtsprechung
des Bundesverfassungsgerichts Entscheidung vom 15. Dezember 1999 (BVerfGE 101, 361 = NJW 2000, 1021)).
8. Eine berechtigte Privatheitserwartung kann dann anzunehmen sein, wenn sich eine prominente Person nicht etwa an einer prominenten Stelle
eines vom "Jetset" viel besuchten Orts aufgehalten hat, wo jeder mit der Anwesenheit von Fotografen rechnen muss. Dies gilt umso mehr,
als das die Aufnahmen zeigen, dass sie unter Zuhilfenahme von Teleobjektiven aus großer Entfernung aus angefertigt worden sind, und schon die
Bildunterschriften verdeutlichen, dass es der betroffenen Person gerade darum ging, der breiten Öffentlichkeit keinen Einblick zu verschaffen.
Streiten insofern nur kommerzielle Interessen und die Befriedigung von rein voyeuristischen Unterhaltungsinteressen einer mehr
oder weniger breiten, gewissen Leserschaft, vermag dies das Recht der betroffenen Person auf Achtung ihrer Privatsphäre nicht zu überwiegen.
9. Der Unterlassungsantrag muss so deutlich gefasst sein, dass der Streitgegenstand und der Umfang der Prüfungs- und Entscheidungsbefugnis
des Gerichts klar umrissen ist, sich der Beklagte umfassend verteidigen kann und die Entscheidung darüber, was ihm verboten ist,
nicht im Ergebnis dem Vollstreckungsgericht überlassen bleibt. Zwar sind bei der Formulierung eines Unterlassungsantrages im Interesse
eines hinreichend wirksamen Rechtsschutzes gewisse Verallgemeinerungen zulässig, weil eine Verletzungshandlung die Vermutung der Begehungsgefahr
nicht für die identische Verletzungsform begründet, sondern auch für alle im Kern gleichartigen Verletzungshandlungen; es muss aber
stets auch in dieser verallgemeinerten Form das Charakteristische der konkreten Verletzungsform zum Ausdruck kommen.
10. Die Verwendung der Formulierung "des privaten Alltags" ist nicht geeignet, das zu unterlassene Handeln hinreichend konkret zu
bezeichnen. Der Antrag, die Veröffentlichung und/oder Verbreitung von Bildnissen aus dem privaten Alltag zu untersagen, geht deutlich über
die konkrete Verletzungshandlung hinaus. Demgegenüber ist der Zusatz "wie in" geeignet, an das Charakteristische des konkreten Verletzungstatbestandes
anzuknüpfen.
MIR 2006, Dok. 282
Bearbeiter: Rechtsanwalt Thomas Ch. Gramespacher
Online seit: 27.12.2006
Kurz-Link zum Artikel: http://miur.de/500
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